Leben auf dem Lande
Ungleiche Bildungschancen auf dem Lande
Bearbeitet von Christian KochÜber den Stand der Bildung und vor allem der Bildungschancen der jeweiligen Klassen und Schichten um 1800 enthält der Bericht eines „reisenden Dorfpredigers“ wichtige Aussagen, wie er in den Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte Band 66/3, Akademie-Verlag-Berlin, 1982, S. 31ff zitiert wurde:
„Der hiesige Bauer liebt Lektüre. In den Dörfern, die zunächst um Magdeburg liegen, findet sich sogar Lesegesellschaften, die mit vielem Eifer unterhalten werden. […] Zeitungen und Journale werden fast in jedem Dorf gelesen, und die meisten Einwohner räsonnieren nach ihrer Art mit Eifer über die neuesten politischen Begebenheiten. In den Gasthöfen findet man Tabellen (Karten) von den vorzüglichsten Städten in Europa, besonders von denen, die in den Zeitungen vorkommen, so dass, wenn ihnen ein Ort fremd ist, sie sich gleich aus der Tabelle Rat holen. In Schulen wird die Jugend außer dem Christentum, Rechnen und Schreiben auch in der Geschichte, Geographie und Naturgeschichte unterrichtet. […] Das Gesinde ist roh, oft grob und vielerlei Lastern ergeben.“
“Was hier in dem Bericht des zeitgenössischen Chronisten festgestellt wird, ist der Umstand, dass die Bördebauern – und hier handelt es sich um große Bauern, die es sich bereits leisten können, ihre Höfe nur noch durch Anweisungen zu leiten und nicht unbedingt selbst mit Hand anlegen müssen – nicht nur ein auffallend hohes Grundwissen besitzen, sondern es auch artikulieren, anzuwenden und zu erweitern verstehen. […] und es liegt die Annahme nahe, dass sich die reichen Bauern auch schon am Ende des 18. Jahrhunderts Hauslehrer halten konnten, die Geistlichen des Dorfes um spezielle Unterrichtung ihrer Kinder baten oder diese auch in die nahe Stadt mit ihren besseren Bildungsmöglichkeiten schickten.
Verkennen dürfen wir freilich nicht, dass die eigentlichen Bildungschancen für die Kinder der Dorfarmut und des Proletariats ungleich schwerer waren als für die Knaben und Mädchen der bäuerlichen Klasse. Einmal waren sie gezwungen, zumindest in Zeiten der Arbeitsspitzen, die Eltern bei der Tagelöhnerarbeit zu unterstützen bzw. den verschiedenen Möglichkeiten der Fabrikarbeit nachzugehen und damit die Schule bewusst zu versäumen; zum anderen waren die äußerlichen Schulverhältnisse selbst, die Betätigung der Lehrer, die völlig ungenügenden Lehrpläne und der Einfluss der Obrigkeit bzw. der Streit zwischen den reaktionären Auffassungen etwa des Ministers Wöllner und den aufklärerischen Ideen Pestalozzis und seiner wachsenden Anhängerschaft triftige Gründe für die mangelnden Bildungschancen der Kinder aus den unteren Sozialschichten.
Kontinuierlicher Schulbesuch nur im Winter möglich
Einige Beispiele mögen diese Feststellungen verdeutlichen: Bezeichnend dafür, dass in den Dörfern eigentlich vom späten Herbst ab, also in den Wintermonaten, ein halbwegs kontinuierlicher Schulbesuch möglich war, ist das in der Börde verbreitete Sprichwort „Okuli steckt de Bücher by“. In der Tat war der Schulbesuch in den Sommermonaten so gering, dass die Kinder, wenn überhaupt, nur ein bis zwei Stunden zur Schule kamen, und es ist, wie in Niederndodeleben vorgekommen, das tageweise gar kein Kind anwesend war (1809).
Natürlich machte man sich behördlicherseits darüber Gedanken, drohte den Eltern mit Strafe für den versäumten Schulbesuch ihrer Kinder, aber trotz allem zählte gerade bei der Dorfarmut und beim Proletariat die Arbeitskraft des Kindes mehr; ja der Schulbesuch ging noch weiter zurück, als die Zuckerrübenwirtschaft in Gang kam und die Unternehmer „ganze Scharen von Schulkindern beim Verziehen und Hacken auf dem Felde beschäftigten, nicht bloß werktags, sondern auch sonntags.
Kinderarbeit statt Schulbesuch
Ein markantes Beispiel bietet die Zeit um 1830 das stadtnah gelegene Diesdorf, von dem es in der Ortschronik heißt: „In hiesiger Gemeinde sind alle arm, die nicht Grund und Boden besitzen. Kinder solcher Eltern zum vollen Schulbesuch zu zwingen, ist unmöglich, viele Arbeiten können gerade kleine Kinder am besten verrichten, sie müssen im Felde helfen, auch jüngere Geschwister warten.“
Die Berichte über schlechte äußere Schulverhältnisse bzw. über die mangelnde Ausstattung der Schulräume sind auch aus anderen Territorium ähnlich und zu bekannt. […] Nur hervorgehoben sei, das es in erster Linie wieder die Kinder der Landarmut und des Proletariats betraf, die bei ohnehin beschränkter Stundenzahl unter den oft erbärmlichen Zuständen – Ausnahmen bestätigen die Regel! — am meisten zu leiden hatten.“
Quelle: Bauer und Landarbeiter im Kapitalismus in der Magdeburger Börde – Zur Geschichte des dörflichen Alltags vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Akademie-Verlag. Berlin 1982, S. 31ffDie Bildungschancen für die Kinder der Landarbeiter waren auch schon dadurch erheblich eingeschränkt, dass die materielle Basis für die Lehrer das von den Eltern an die Lehrer zu zahlende Schulgeld und dies meist noch wöchentlich bereitzustellen war.
So war es bereits Ende des 19. Jahrhunderts allgemein üblich, das die Kinder der Groß- und Mittelbauern höchstens noch die ersten vier Schuljahre im Ort und unter der Aufsicht der Eltern zubrachten und dann anschließend ein Gymnasium oder meist städtische Schulen besuchten, in denen fast immer Internate für die aus den entfernten Dörfern kommenden Kinder angeschlossen waren.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand die Tendenz, nach Beendigung einer normalen städtischen Mittelschule eine landwirtschaftliche „Winterschule“ zu besuchen. Aus der Magdeburger Börde wird berichtet:
Winterschule
„Zu den populärsten Winterschulen gehörte zwar weiterhin die Schule in Helmstedt, an der im Winter 1901/02 allein 158 Schüler aus der Provinz Sachsen lernten, doch erlangten im Laufe der Zeit auch die 1906 in Neuhaldensleben und 1920 in Kalbe/Saale gegründete Landwirtschaftsschulen für die Bördebauern Bedeutung. Anliegen dieser Schulen war es, „junge Landwirte, vor allem Söhne mittlerer und kleinerer Besitzer für ihren Beruf zur selbstständigen und erfolgreichen Führung des väterlichen oder einer anderen Wirtschaft von mittlerer und kleinerer Ausdehnung auszubilden, sodann aber auch dieselben zu befähigen, als Verwalter in einer größeren Gutswirtschaft tätig sein zu können.“ In Neuhaldensleben mussten im Jahre 1907 die meist 15–20 jährigen Schüler für die sechsmonatige Ausbildung in sechs „Allgemeinen Bildungsfächern“ […] pro Semester 60 Mark Schulgeld sowie monatlich 45 Mark für die Wohnung und Kost, insgesamt also etwa 330 Mark zahlen.“
Quelle: Die werktätige Bevölkerung in der Magdeburger Börde – Studien zum dörflichen Alltag vom Beginn des 20. Jahrhundert bis zum Anfang der 60er Jahres, Akademie-Verlag. Berlin 1986, Bd. 66/4, S. 46ffZweiklassige Dorfschule
Während in der normalen Dorfschule neben den Kindern der Arbeiter auch die der Klein- und Mittelbauern und vor allem der Kleinbauern verblieben, blieben die Söhne und Töchter der Groß- und einiger Mittelbauern fast nie nach Abschluss der vierten Klasse im Ort. So kapselten sich die Söhne und Töchter der Groß- und Mittelbauern auch nach der Rückkehr in ihr Heimatdorf von der übrigen Dorfjugend von vornherein weitgehend ab und pflegten kaum Kontakte mit diesen.
Die Bildungsmöglichkeiten für die Kinder der Landarbeiter, der landlosen und landarmen Bauern einschließlich der Pendler waren auf die Dorfschule beschränkt, die vielfach nur ein- oder zweiklassig existierte. Das hier erreichte Bildungsniveau stand erheblich unter dem Niveau der städtischen Volksschulen. Ende der 20er Jahre waren über 50 % der 54 staatlichen Volksschulen des Kreises Wanzleben ein- oder zweiklassig. Keine einzige derartige Schule war voll ausgebaut, achtklassig; mindestens zwei Jahrgänge von Schülern saßen in einer Klasse und mussten gemeinsam von einem Lehrer unterrichtet werden.
Das Bildungswesen erfuhr durch die Herrschaft des Hitlerfaschismus keine wesentliche Verbesserung. Es kam z.B. zu zahlreichem Lehrerausfall durch die Einziehung zur Wehrmacht und der Kriegshilfsdienst hat Jugendliche zum Teil schon ab dem 10. Lebensjahr verpflichtet.