Wohnverhältnisse
Seßhaftmachung von Landarbeitern, Landflucht, Wohnungsverhältnisse und Siedlungspolitik auf dem Lande
Bearbeitet von Peter WeidelDer Begriff Landarbeiter ist nach dem Agrarwissenschaftler, Politiker und Historiker Theodor Freiherr von Goltz (1836–1905) ein Produkt der Agrargesetzgebung und der Bauernbefreiung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Natürlich hat es Landarbeiter, im engeren Sinn des Begriffs, auch schon vorher gegeben. Einen besonderen Landarbeiterstand gab es noch nicht. Man ging in der allgemeinen Sprachregelung davon aus, dass Bauern und ländliche Arbeiter identisch sind. Im Zuge der Bauernbefreiung erfolgte die „Einziehung“ vieler kleiner Bauernstellen, das vermehrte die Zahl der Arbeitskräfte derart, dass man diese Zeit, wie von der Goltz meint, als den eigentlichen Ursprung einer ländlichen Arbeiterklasse ansprechen muss. Die ehemaligen Kleinstellenbesitzer wurden nun Tagelöhner. Es soll daher kurz auf die Situation der Landarbeiter in den ostelbischen Gebieten von Hannover, Braunschweig, und Schleswig-Holstein bis Ostpreußen eingegangen werden, weil es zum Verständnis des Gesamtproblems wichtig ist. In Folge des Preisverfalls landwirtschaftlicher Produkte, besonders des Getreides, verkauften viele Bauern ihre Stellen, vornehmlich an benachbarte Gutsbesitzer, und lebten dann von der Rente oder wurden Lohnarbeiter, die meisten als Instmänner oder Deputatisten. Diese neuen Gutstagelöhner mussten täglich auf das Gut kommen und auch einen Hofgänger stellen. Auch die Frau des Tagelöhners musste der Herrschaft Dienste leisten, insbesondere in der Erntezeit. Alles wurde durch Kontrakte festgelegt. Genauso wie die königlichen Domänenpächter mit Hilfe des Staates Arbeiterwohnungen erstellten, geschah es auch auf den privaten Gütern. Diese neue ländliche Arbeiterklasse, auch Instleute genannt, bildete anfangs die Hauptmasse der Landarbeiter von der es in dieser Zeit einen Überfluss gab, so dass die Welt widerhallte von der Klage der Gutsbesitzer, das die größte Not der Landwirtschaft der Überfluss der Menschen auf dem Lande sei, mit dem man nichts anzufangen wisse.
Bauernstand und Landarbeiterklasse entstehen
Die erste große Landarbeiterfrage wird damit ein Problem, das ganz Europa erfasst. Der für Ostelbien geradezu typische Prozess einer Trennung des überwiegend einheitlichen Bauernstandes in die zwei Stände, der Bauern einerseits und der Arbeiter andererseits, vollzog sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz allmählich und, wie von der Goltz meint, fast unmerklich. Aber für das, was als Befreiung bezeichnet wurde, mussten die Befreiten ein teures Lösegeld bezahlen. Es gab viele Arbeiter, aber wenig Arbeitsplätze obwohl das Land noch weithin agrarisch ausgerichtet war. Zu Beginn des Jahrhunderts zählten noch 90 % der Bewohner zur Landbevölkerung, 1892 etwa 50 % und 1910 noch 40 %. So stellt sich die Bevölkerungsstruktur um die Mitte des 19. Jahrhunderts dar: Arbeitnehmer, Besitzende und Besitzlose, Unternehmer und teilweise Proletarier. Die soziale Frage in der Industriearbeiterschaft wurde dann auch eine soziale Frage für weite Kreise der Landarbeiter. Nicht durch die Masse der Familienbetriebe, vielmehr durch die Betriebe mit Lohnarbeitern wird nun die Landwirtschaft den sozialen Problemen für die kommende Zeit verbunden bleiben. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt sich die “Landarbeiterfrage“ als Arbeitsplatzfrage zu entspannen. Die Abwanderung beginnt, sowohl nach Übersee (Amerika) als auch in die Städte, die große Ost-West-Wanderung setzt ein. Die mächtig aufblühende Industrie wirkt wie ein Magnet.
Welches die eigentlichen Motive waren, sei dahin gestellt. Das verlockende Stadtleben und die wirtschaftliche Möglichkeiten der Industriearbeit und andererseits die Lebensbedingungen auf dem Lande sind einige Gründe. Hinzu kam die riesige Auswanderung nach Amerika. Dazu kommt, dass Gutsbesitzer die Zeit der günstigen Konjunktur von 1850–1870 nicht nutzten, um durch Lohnsteigerungen und bessere Wohnverhältnisse die Arbeiter zu halten.
Große soziale Probleme im ländlichen Raum
Das soziale Verständnis war noch wenig entwickelt und hat sich über Jahrzehnte gehalten. Die alten Bande der Agrarverfassung hatten sich gelöst. Man konnte glauben die Arbeiter wären ähnlich wie die landwirtschaftlichen Maschinen, Geräte und die Haustiere nur zur Erhöhung des Reinertrages der Wirtschaft bestimmt und hätten an und für sich keinen weiteren Lebenszweck. Von den Arbeitgebern war also wenig oder nichts zu erwarten, zumal Wanderarbeiter als Billigarbeiter noch weiter auf die Löhne drückten. Die Entwicklungen in der Industriearbeiterschaft zeigten zunehmend Rückwirkung auf die Situation der ländlichen Bevölkerung, der Landarbeiterfrage und deren Arbeitsverfassung. Nun gab es auch Reaktionäre, die sich gegen Schulzwang der Landkinder, gegen das Verbot der körperlichen Züchtigung und die Armengesetze wandten. Sie wollten die alten Strukturen, zu ihrem Vorteil erhalten. Es gärte also. Man wollte die Landarbeiter abhalten von Bildung und Aufklärungsarbeit und sie durch möglichste Niedrighaltung ihrer Lebensbedürfnisse an das Land fesseln. Es gab aber zu dieser Zeit fortschrittliche Zeitgenossen. Die sich durch alle Jahrgänge der Vereinsschrift des Westfälischen Bauernvereins hinziehende Klage über das Landarbeiterproblem führte 1891 auch zur kritischen Selbstreflexion, sie machte auf die im Gegensatz zu den entstandenen palastähnlichen Schulen, so war der Sprachgebrauch, auf die schlechten Wohnverhältnissen der Landarbeiter aufmerksam, die noch die gleichen seien wie vor 50 oder 100 Jahren. Sie meinten: Der Landarbeiter habe kein Heim, er sei heimatlos. Und es musste gelingen, den Arbeiter an das Land zu binden, ihn sesshaft zu machen. Diese Frage durchzieht in den folgenden Jahrzehnten die gesamte Geschichte des Landarbeiterstandes. Vieles hing an den Wohnverhältnissen. Die Wohnungen waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts denkbar einfach. Im Wohn- und Wirtschaftsgebäude spielte sich das tägliche Leben, Kochen, Essen usw. auf der Diele ab. Daneben lag eine Speisekammer und evtl. eine Stube. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren bessere Wohnverhältnisse anzutreffen. Die geschilderten Zustände der Wohnverhältnisse sind nicht allein aus heutiger Sicht als denkbar miserabel und „menschenunwürdig“ anzusehen, sie wurden von den Landarbeitern durchaus erkannt. Daher strebten viele Tagelöhner den Besitz von Grund und Boden an, dieses Ziel war jedoch nur selten erreichbar, was in Norddeutschland, wesentlich stärker als in Süddeutschland, zur Auswanderung führte. In Schleswig-Holstein wanderten in der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders Tagelöhner ohne eigenen Grundbesitz aus. Sie gaben folgende Gründe für diesen Schritt an: Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage, um eigenen Grundbesitz zu erwerben und um der Militärpflicht zu entgehen.
Abwanderungen aus dem ländlichen Raum
Neben dieser Auswanderung, besonders nach Amerika, fand eine beträchtliche Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte statt. Das bedeutete, die Aufgabe der Landarbeit zu Gunsten einer gewerblichen Arbeit oder im Dienstleistungsbereich. Die in allen Teilen Deutschlands festzustellende massenhafte Abwanderung der Landarbeiter löst zwar zahlreiche Diskussionen aus, praktische Maßnahmen wurden jedoch nur zögernd ergriffen. Von der Goltz forderte vom preußischen Staates, dass er das bei der früheren Agrargesetzgebung unterlassene nachholt und den ländlichen Arbeitern durch geeignete Maßnahmen Anteile am Grundbesitz oder dessen Nutzung verschafft, sie als berechtigtes Glied in die Landgemeinde einreiht und an ihre Heimat und Arbeitsstätte fesselt. Bei den 1890 erlassenen Rentengutgesetzen war die Errichtung eigentlicher Arbeiterstellen überhaupt außerhalb des Bereiches der staatlichen Förderung gestellt worden.
Maßnahmen gegen Abwanderungen
Erst 20 Jahre später wurde von Seiten des preußischen Staates die Seßhaftmachung von Landarbeitern gefördert. Damals handelte es sich vornehmlich um die Ansiedlung von Landarbeitern, die ihren Arbeitsplatz auf einem Großbetrieb hatten, und die nach dessen Aussiedlung den Arbeitsplatz verloren hatten. Erst nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu verschiedenen Maßnahmen des Staates Landarbeiter als kleine Eigentümer auszustatten. Bei diesen Maßnahmen und auch bei der Verordnung zur Förderung des Landarbeiterwohnungsbaues von 1937 wurden in erster Linie Familien begünstigt, deren Ernährer seit längerer Zeit als Landarbeiter tätig waren. Um das Los vieler Familien zu verbessern, wurden ihnen ein Haus und mehr oder weniger viel Land als Eigentum übertragen. Aber auch der Bau von Werkswohnungen wurde vom Staat zwischen den Weltkriegen gefördert. Der Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft trug immer zur Förderung des Wohnungsbaus auf dem Lande bei.
Zurück zu den Problemen der Landflucht. Es scheint, als wenn die Gründe für die Abwanderung auch heute noch nichts von ihrer Bedeutung verloren haben. Der Zentralverband der Forst‑, Land- und Weinbergarbeiter stellte zur Problematik der Landflucht und der Wohnungsverhältnisse in einem Positionspapier von 1919 folgende Forderungen auf:
“Der Verband fordert Arbeiterschutzbestimmungen für land- und forstwirtschaftliche Arbeiter und Arbeiterinnen. Ein kleiner Anfang ist in der vorläufigen Landarbeitsordnung schon mit dem Arbeiterschutz gemacht worden. Die Arbeiterwohnungen auf dem Lande sind vielfach so miserabel und eng, dass ein gutes Familienleben schier unmöglich ist. Bekannt ist das Wort Kaiser Wilhelms II. beim Anblick einer solchen Landarbeiterwohnung: da sind ja meine Schweineställe in Cadinen besser. Dazu kommt, dass in einigen Gegenden der Arbeiter noch einen, ja sogar zwei Hofgänger in seine an sich zu enge Wohnung mit aufnehmen muss. Wir fordern deshalb Familienwohnungen, welche allen gesundheitlichen Ansprüchen genügen und in sittlicher Beziehung einwandfrei sind. Dazu ist nötig, dass insbesondere unter Berücksichtigung der Kinderzahl ausreichende und gesunde Schlafräume vorhanden sind die eine Trennung der Geschlechter ermöglichen. Die Wohnungen müssen geräumig genug und warm sein, um ein behagliches Familienleben aufkommen zu lassen. Es ist nicht erträglich, wenn die Wirtschaftsgebäude des Gutes einen freundlicheren Eindruck machen als die Wohnhäuser der Arbeiter. Es wird dann weiter festgestellt: die Wohnungen der Ledigen müssen sittlich einwandfrei liegen, beheizbar, verschließbar und mindestens mit Bett, Tisch, Stuhl, verschließbaren Schrank ausgestattet sein. Sofern Arbeiter gehalten sind Hofgänger aufzunehmen müssen die ihnen zur Verfügung stehenden Wohnungen geräumig genug sein. Diese Voraussetzungen erfüllen die Arbeiterwohnungen nicht. Es wird verlangt, dass das Hofgängerwesen, dahingehend geändert wird, das diese Arbeitskräfte unmittelbar vom Arbeitgeber entlohnt und in besonderen, eingerichteten Ledigenheimen untergebracht werden. Die üblichen Schnitterkasernen dürfen aber nicht als solche Ledigenheime angesehen werden.”
Diese Forderungen des Zentralverbandes wurden erst Jahre später — nur ansatzweise — umgesetzt.
Bei der Diskussion der verschiedenen Wege zur Seßhaftmachung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte ist mit besonderer Eindringlichkeit die Frage der Bindung des Landarbeiters an Beruf und Arbeitsplatz zu behandeln. Die Werkwohnung oder das Eigenheim ist diejenige Form, die den Landarbeiter am engsten an den Arbeitgeberbetrieb bindet. Bei Eigenheimen und Landarbeitersiedlungen ist zwar die Bindung an einen bestimmten Arbeitgeberbetrieb praktisch unmöglich, die Bindung an den Beruf jedoch kann durch verschiedene Bestimmungen gesichert werden, so die Agrarsoziale Gesellschaft in einer Untersuchung von 1956 zur Seßhaftmachung von Landarbeitern.
Maßnahmen gegen Fachkräftemangel
Der Mangel an Fachkräften, der nach der Währungsreform im Jahre 1928 in der westdeutschen Landwirtschaft immer spürbarer wurde, erfasst mehr und mehr Betriebe, die bisher nur mit unverheirateten und weniger qualifizierten Gesindearbeitskräften arbeiteten. Verheiratete Arbeitskräfte einzustellen war oft wegen fehlender Wohnungen nicht möglich. Durch neue Förderprogramme wurden verheirateten Landarbeitern mit Krediten und Zuschüssen der Wohnungsbau und der Eigenheimbau erleichtert. Deshalb kann man rückblickend unter Seßhaftmachung von Landarbeitern all diejenigen Maßnahmen verstehen, die dem verheirateten Landarbeiter zu einem gesicherten Arbeitsplatz, zu Wohnung, Eigentum und Boden verhelfen. Die Förderung des Landarbeiterwohnungsbaus in Schleswig-Holstein hat zum Bau von rund 18.000 Eigenheimen geführt. In diesem Bundesland, wo sehr gute Erfolge bei der Seßhaftmachung von Landarbeitern erzielt wurden, bestehen die relativ engsten Bindungen an den Arbeitgeber-Betrieb.
Nur solche Bewerber erhielten dort ein Landarbeitereigenheim bzw. eine Förderung, die eine ständige Beschäftigung in der Land- und Forstwirtschaft nachweisen konnten. Eine Form der Seßhaftmachung ist die Werkwohnung, sie steht im Eigentum des Arbeitgebers und ermöglicht den Einsatz von verheirateten Landarbeitern. Arbeitsvertrag und Mietvertrag sind miteinander verbunden. Die Lösung des ersteren bedingte einen Wohnungswechsel und Wegfall der Vertragsgrundlage. Unter Landarbeiter Eigenheim wird eine Siedlerstelle verstanden, die bis zu 800 m² Eigenland umfasst. Sie hat meistens den Charakter einer Kleinsiedlung mit Kleintierhaltung. Nach der Statistik sind von 1948 bis 1956 bundesweit rund 34.000 Eigenheime für Landarbeiter entstanden. Geht man bis auf das Jahr 1924 zurück, wurden bis 1941 mit öffentlichen Mitteln 115.600 geförderte Landarbeiterwohnungen gebaut. Die Förderung des Landarbeiterwohnungsbaus hat entscheidend zu Anhebung des Ansehens der Landarbeiter, auch innerhalb der gesamten ländlichen Bevölkerung, geführt.
Quelle: Brand, H.H.: Landarbeiterbewegung;Jahresberichte der Landwirtschaftskammer;
Dr. von der Goltz, Th.: Die Ländliche Arbeiterklasse und der Staat;
Dr. Radetzki, W.: Die inländischen Wanderarbeiter