Leben auf dem Lande
Interviews mit ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus VEGn in Sachsen-Anhalt
Ein Bericht mit Interviews von Christian KochÜbereinstimmend sprachen die Kolleginnen und Kollegen von erlebten Massenentlassungen, Arbeitslosigkeit und den Abbau vieler sozialer und kultureller Einrichtungen. Die Landwirtschaft in der DDR wurde unter den gegebenen Umständen als hochproduktiv geschildert. Die gesamte Aus- und Weiterbildung war optimal organisiert; das führte zu einem hohen Qualifizierungsstand in den Betrieben.
Im Mittelpunkt der Aussagen stand der hohe soziale Stellenwert der Betriebe für den ländlichen Raum! Positiv wurde demnach das gesellschaftliche Leben im Dorf im Wesentlichen von den LPGen und VEG geprägt.
Zur gewerkschaftlichen Einflussnahme wurde zu den Zeiten vor 1990 kaum etwas berichtet.
In der „noch DDR“ wurde 1990 die neue Gewerkschaft GLNF von der betrieblichen Basis über Kreisvorstände, Bezirksvorstände bis zum Zentralvorstand in demokratischen Wahlen neu aufgebaut. Aus dieser Zeit, die gekennzeichnet war durch den Kampf um höhere Löhne in Angleichung an die in Westdeutschland, sowie durch Proteste gegen Sozialabbau und drohende Arbeitslosigkeit, berichteten zwei Kollegen von den Kampfmaßnahmen auf der A2 (Sperrung der Transitautobahn) und der wochenlangen Mahnwache vor der Magdeburger Staatskanzlei.
Weiter gab es Erinnerungen an die Unterstützung bei den ersten Betriebsratswahlen in VEG, sowie bei den ersten Haustarifverhandlungen in VEG à GmbH.
In diesen Zusammenhängen wurde festgestellt, daß die Beschäftigten in den LPGen, die keine Anteile an der Genossenschaft hatten, durchaus Arbeitnehmereigenschaften besaßen, aber in der DDR nicht gewerkschaftlich im FDGB organisiert waren. Da eine nicht geringe Anzahl Mitarbeiter der ehemaligen LPGen von den „umgewandelten“ Genossenschaften erstmal übernommen wurde, hätten eben diese in entsprechenden Werbeaktionen für die GGLF ein erhebliches Mitgliederpotential bedeuten können und ihre Interessenvertretung wäre im weiteren Strukturwandel möglich gewesen.
Auf diese Hinweise von den Landesvorständen der neuen Bundesländer wurde damals vom Hauptvorstand der GGLF nicht reagiert. Das „heiße Eisen“ wurde nicht thematisiert.
Die Ergebnisse der Einzelgespräche sind von dem Erleben der jeweiligen Kollegin oder des Kollegen und ihrer Stellung im Betrieb geprägt und sind oft ähnlich, geben insofern aber auch einen Einblick wie die Stimmung sich auf den Dörfern, aber auch bei den einzelnen Arbeitnehmern mit zunehmender Transformation änderte.
Im Folgenden die Daten und Stellung im Betrieb der jeweiligen Befragten und ihre wesentlichen Aussagen:
Werner G. / 69 Jahre
Männlich / Dipl.Ing. für wiss. Gerätebau
Betrieb: VEB Saat- und Pflanzgut Quedlinburg / Quedlinburger Saatgut GmbH
gekündigt 1996 / anschließend 6 Monate arbeitslos.
Anfangs herrschte Aufbruchstimmung im Betrieb, da sehr früh ein Betriebsrat gegründet wurde, der die Interessen der AN offensiv vertrat. Die Stimmung änderte sich schlagartig, nachdem die Treuhand den Betrieb an eine Schweizer Firma verkaufte. Diese erhielt 50 Mill DM Fördermittel für den Bau eines Gewächshauses. Die Firma wurde dann in Folge mehrmals weiter verkauft mit jeweiligem Arbeitsplatzabbau.
Allgemeine Erkenntnis im Nachhinein ist, dass die Leistungen der Beschäftigten nicht anerkannt wurden. Ein Zitat eines Geschäftsführers aus den alten Bundesändern damals war: „Sie müssen erstmal richtig arbeiten lernen“. (Anmerkung des Interviewers: Der VEB Saat- und Pflanzgut Quedlinburg war ein in Ost und West anerkannter Zuchtbetrieb).
Positive Erinnerungen für diese Zeit im Betrieb: der Betriebsrat hatte einen Haustarifvertrag und einen Sozialtarifvertrag mit Unterstützung der GGLF abgeschlossen. An der Aktion der GLNF / GGLF zur Sperrung der damaligen Transitautobahn A2 im Sommer 1990 haben Vertreter des Betriebes teilgenommen.
Joachim Hans M. / 73 Jahre
Männlich / Facharbeiter/Meister der Rinderzucht und Dipl. Agr. Ingenieur Tierproduktion
Betriebe: 1965–90 VEG (Z)¹ Bretsch – Primern; 1990–99 Gut Bretsch (unter Treuhandverwaltung); 1999–2003 Gut Bretsch (privatisiert), gekündigt 2003; 2003-11 Agrargenossenschaft Lücksted; 2011 Renteneintritt
In der Wendezeit standen unzählige Fragen vor den Beschäftigten, die niemand beantwortete: Wer behält seinen Arbeitsplatz? Wie wird sozial abgefedert? Was wird durch die Treuhand entschieden? Wie wird die Rolle der Gewerkschaften sein?
Nach dem „Übertritt“ in die GGLF 1990/91 wurde 1991 mit Unterstützung der Gewerkschaft ein Betriebsrat gegründet und ein Sozialplan beschlossen. Nach dem Beginn des rapiden Arbeitsplatzabbau und der vielen offenen Fragen änderte sich die allgemeine Aufbruchstimmung erheblich und wich den Sorgen um die Zukunft. Mit der Währungsunion gab es weitere Verunsicherungen, Löhne und Gehälter halbierten sich, Energie, Wasser und Wohnungsmieten verteuerten sich zum Teil erheblich.
Eine besondere Tragweite hatte die Entwertung des eigenen Arbeitslebens. Das VEG Tierzucht Bretsch gehörte in der DDR zu den führenden Zuchtbetrieben und war auch international anerkannt. Die Beschäftigten hatten einen hohen Qualifizierungsstand, die Arbeit der Züchter genoß höchste Anerkennung. Das spielte nach der Wende keine Rolle mehr. Was in der Erinnerung haften blieb sind Arbeitsplatzverlust, geringe Bezahlung, keine Wertschätzung mehr!
Durch die hohe Arbeitslosigkeit Anfang der 90ziger Jahre war das gesellschaftliche Leben im Dorf gespalten. Soziale Einrichtungen, wie Kindergärten kosteten viel mehr Geld, Schulen wurden zusammengelegt (Konsequenz: weite Fahrstrecken), Geschäfte wurden geschlossen. Die vorherige Unterstützung des gesamten sozialen Bereichs durch den Kultur- und Sozial- Fonds (K.u.S Fonds) der volkseigenen Betriebe fiel mit der neuen Gesetzgebung schlagartig ersatzlos weg (dazu gehörten: Wohnungsrenovierungen, betriebliche Ferieneinrichtungen, betriebliche Feiern, Kinderferienlager u.v.m.)
NN / 84 Jahre
Männlich / Stellmacher; Facharbeiter Rinderzucht; Meister der Rinderzucht
Betrieb: 1951–90 VEG Bretsch-Primern; 1990–92 Gut Bretsch unter Treuhandverwaltung; ab 1992 Altersteilzeit / Rentner.
Obwohl er keinerlei gesundheitlichen Einschränkungen hatte, wurde er mit 55 Jahren in den Vorruhestand geschickt. Natürlich mit geringeren Leistungen.
Die Stimmung in der damaligen Zeit war geprägt durch “man wird nicht mehr gebraucht“, „..keine Arbeitsmöglichkeiten in Landwirtschaft mehr“, „..trotz Abfindungen laut Sozialplan Zukunftsängste“. Der VdgB (verband der gegenseitigen Bauernhilfe) spielte in der Wendezeit keine vernehmbare Rolle.
Rudi W. / 71 Jahre
Männlich / Agrar Ing. Ökonom
Betrieb: Bis 1990 VEG Schwaneberg; 1990 im Übergang zur GmbH gekündigt; Weiterbeschäftigung im Kreisverband des FDGB, später Gewerkschaft LNF, danach Bürgermeister (Wahlfunktion).
In seine Erinnerungen ist die Wendezeit von Existenzangst geprägt. Die Arbeit im VEG war gekennzeichnet von gegenseitiger Achtung und Hilfe untereinander. Die Arbeit wurde anerkannt und auch gewürdigt. Das alles war mit Beginn der Kündigungswellen vorbei. Die Abwicklung des Betriebes wurde zu wenig kontrolliert und war nicht transparent. Es gab Unrecht bei der Verteilung des Betriebsvermögens. Die sozialen Belange blieben komplett auf der Strecke, es entstand der Eindruck, dass sich ehemalige Führungskräfte „nur noch um ihre eigenen Belange kümmerten“. Zu den Verlusten der Beschäftigten gehörte der Wegfall des bis dato wirksamen Kultur-und Sozial-Fonds. Die Arbeit mit dem Fonds hatte die sozialen Anliegen der Kolleginnen und Kollegen und darüber hinaus berücksichtigt. Das betraf das gesamte gesellschaftliche Leben in der Gemeinde, wie z.B. den sozialen Wohnungsbau, die niedrigen Mieten, die Feriengestaltung, den Urlauberaustausch, die Kinderferienlager, die Förderung von Kultur und Sport, die Förderung der Vereine und die Gestaltung der Feierlichkeiten im Ort.
Die Abfindungsregelung wurde umgesetzt, allerdings griff sie für die Kolleginnen und Kollegen, die in nachfolgende Betriebe übernommen wurden, nur teilweise.
NN / 57 Jahre
Weiblich / Facharbeiterin für Rinderzucht
Betrieb: 1980–90 VEG Bretsch; 1990–94 Gut unter Treuhandverwaltung; ab 1995 verschiedene ABM-Maßnahmen, dann Hartz 4 und zurzeit arbeitslos.
Die Wendezeit war gekennzeichnet durch Arbeitsplatzverlust und ohne Mobilität keine Chance auf andere Arbeitsplätze. Das Arbeitslosengeld‑1 und später Arbeitslosengeld‑2 brachten weitere Verschlechterungen der Lebenssituation, zumal der Ehepartner ebenfalls arbeitslos geworden war. Dienstleistungen, Energie, Wasser verteuerten sich, die Wohnungsmiete wurde mehrfach erhöht.
Als gut ausgebildete Fachkraft jahrelang im Betrieb geschätzt, hat dies schlagartig keine Rolle mehr gespielt. Durch die hohe Arbeitslosigkeit war das dörfliche Leben gespalten. Neben Kindergärten und Schulen gab es den Wegfall der Einkaufsmöglichkeiten im Ort. Der soziale Zusammenhalt war nicht mehr gegeben.
Es erfolgte der Austritt aus der Gewerkschaft, weil keine Zuversicht mehr bestand.
Ursula P. / 82 Jahre (z. Wende 50 Jahre) /
Weiblich / Staatl. geprüfte Landwirtin
Betrieb: 1962–93 VEG Hohenerxleben; dann Gut Hohenerxleben unter Treuhand Verwaltung; 1993 gekündigt; ab da ABM und arbeitslos.
Die allgemeine Situation in der Wendezeit hat dazu geführt das 250 — hauptsächlich junge — Einwohner den Ort verließen.
Als langähriges Mitglied der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) konnte sie einschätzen das die GLNF und dann die GGLF im Umstruktuierungsprozess direkte Unterstützung gegeben hat. So wurde auch die Abfindungsregelung nach Betriebszugehörigkeit umgesetzt.
Eine Reihe von AB-Maßnahmen, die durch das Förderwerk Land- und Forstwirtschaft organisiert wurden, halfen beim unmittelbaren Umbau der Gesellschaft.
Das „Dorfberaterinnen-Projekt“ des Förderwerks Land- und Forstwirtschaft zum Beispiel war in der Zeit eine erste Hilfe für viele betroffene arbeitslose Kolleginnen und Kollegen.
Der fast völlige Wegfall der sozialen und kulturellen Einrichtungen hat zu erheblichen sozialen Verwerfungen im Ort geführt (siehe oben: Wegzug der Einwohner). So denken die ehemaligen Beschäftigten des Volksgutes noch gern zurück an die Zuschüsse beim Eigenheimbau, die jährlichen Urlaubsangebote in betriebseigenen Bungalows, die Kinderferienlager, die Zuschüsse für Kultur- und Sport und die Durchführung von verschiedenen dörflichen Feierlichkeiten. Alles mit Hilfe des K.u.S. Fonds.
Das Leben im Volksgut war zu DDR-Zeiten von sozialer Sicherheit und Anerkennung der Arbeit geprägt.
¹ In der DDR wurden die zentral geleiteten VEG als Z- Betriebe bezeichnet. Sie waren zumeist mit Zuchtaufgaben betraut und führten wissenschaftlich-technische Forschungen durch. Die B‑Güter unterstanden der Bezirksdirektion VEG, die Z‑Güter zentral der Vereinigung volkseigener Güter Saat- und Tierzucht in Berlin.