Tarife / Tarifverträge
Die vorläufige Landarbeitsordnung
Bearbeitet von Peter WeidelAufhebung der Gesindeordnungen — Es beginnt ein neuer Zeitabschnitt für die ländliche Arbeiterschaft nach dem 1. Weltkrieg
Die revolutionären Bewegungen am Ende des Ersten Weltkrieges brachten schließlich auch die Befreiung der Landarbeiter. Am 12. November 1918 wurden vom Rat der Volksbeauftragten die noch bestehenden Gesindeordnungen, besonders die Preußische Gesindeordnung von 1854, außer Kraft gesetzt, ebenso die Ausnahmegesetzgebung für Landarbeiter. Der Zentralverband der Forst‑, Land- und Weinbergarbeiter Deutschlands stellte dazu fest: “Um der Landflucht der ländlichen Arbeiter und Angestellten erfolgreich entgegenzuwirken, die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter und deren Nachwuchs der Landwirtschaft zu erhalten und die dauernde Rückkehr der abgewanderten Arbeiter in die ländliche Arbeit zu fördern erachten die gewerkschaftlichen Verbände Maßnahmen durch die Reichsgesetzgebung für dringend erforderlich.”
Dazu gehörte in erster Linie die Aufhebung der vorläufigen Landarbeitsordnung. Da die Revolutionsregierung nach Auffassung der Gewerkschaft nicht im Stande war, ein Arbeitsvertragsrechts mit ausreichendem Arbeitsschutz unter Mitwirkung einer geordneten Volksvertretung zu schaffen, mussten durch die Gewerkschaft provisorische Bestimmungen getroffen werden. Diese Aufgabe übernahm in den letzten Monaten des Jahres 1918 die Arbeitsgemeinschaft ländlicher Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Ein von ihr fertig gestellter Entwurf einer vorläufigen Landarbeitsordnung wurde dem Staatssekretär des Reichsernährungsamts überreicht, mit der Bitte dem Entwurf Gesetzeskraft zu verordnen. Eine solche Verordnung wurde von den so genannten Volksbeauftragten verkündet, die dann von der deutschen Nationalversammlung bestätigt wurde und somit Gesetzeskraft erhielt.
Vorläufige Landarbeitsordnung; Berlin Januar 1919
(Buchquelle nicht ermittelbar)Wichtige Rechte fehlen
Die vorläufige Verordnung war zur Zeit ihres schnellen Erlasses ohne Zweifel gut gemeint und als Übergangsregelung inhaltlich auch fortschrittlich. Aber sie war unvollständig. Wichtige Bereiche des Landarbeitsrechts waren in ihr nicht geregelt. Zur Verabschiedung eines umfassenden Landarbeitsgesetzes durch den Reichstag kam es jedoch nicht. Die vorläufige Landarbeitsordnung beschränkte die tägliche Arbeitszeit der Tagelöhner für vier Monate im Jahr auf 11, für vier Monate auf 10 und für weitere vier Monate auf acht Stunden täglich mit der Maßgabe, dass Überarbeit mit einem Zuschlag zu vergüten sei. Eine Tätigkeit für eine politische Partei oder eine Gewerkschaft durfte nicht als Kündigungsgrund gelten. Am sozialen Status der beim Arbeitgeber in Kost und Wohnung befindlichen Gesindearbeitskräfte wie Knechte, Mägde und Dienstboten änderte die Verordnung nichts. Als besondere Härte wurde empfunden, dass sie für diese Arbeitskräfte, die damals 75–80 % der landwirtschaftlichen Lohnarbeitskräfte überhaupt stellten, keinerlei Begrenzung ihrer Arbeitszeit vorsah. Dieser Bereich wurde später auf Druck der Landarbeitergewerkschaften zwar schrittweise tarifvertraglich geregelt. Er unterlag aber in der Republik von Weimar noch lange der völlig freien Vereinbarung und damit der Willkür der Arbeitgeber. Es fehlten darüber hinaus auch wichtige Mindestnormen über Urlaub, Lohnfortzahlung und wichtige Regeln und Vorschriften über den Abschluss und Kündigung von Arbeitsverträgen. Was die Landarbeiterschaft als soziale Errungenschaften der Revolution verbuchen konnte, fand nur teilweise Niederschlag in der vorläufigen Landarbeitsverordnung. Sie gab den Landarbeitern dennoch viele, bis dahin nicht bestehende Rechte und war durchaus ein wesentlicher Schritt nach vorn. Leider sollte diese Verordnung in ihrer täglichen Durchführung vor Ort auf sehr schwachen Füßen stehen. Da die Macht der Großgrundbesitzer durch den Novembersturz nicht gebrochen war, versuchten schon im Sommer 1919, trotz Tarifabschluss, vereinzelte Gutsbesitzer, auf dem kaltem Wege eine Zerschlagung des Landarbeiterverbandes herbeizuführen. So wandte sich zum Beispiel im nachstehenden Schreiben der für dieses Gebiet zuständige Landarbeitersekretär Friedrich Hansen am 7. August 1919 an den zuständigen Landrat:
“Wie mir soeben mitgeteilt wird, sind auf dem Gute des Besitzers Struckmann Kündigungen von zwei Arbeitern vorgenommen worden. Der eine ist Vorsitzender des Landarbeiterverbandes und der andere Mitglied des Arbeiterausschusses. Welche Gründe zur Kündigung vorliegen ist nicht bekannt. Es zeigt sich aber vielfach, dass gerade Leute die für die Arbeitnehmerorganisation tätig sind von den Kündigungen betroffen werden. Da mir aber außerordentlich viel daran liegt, dass wir in unserer Provinz Ruhe und Ordnung haben, um unsere Ernten herein zu schaffen, halte ich es von Seiten der Gutsbesitzer für taktisch unklug, gerade in dieser Zeit Kündigungen vorzunehmen. Ich richte daher die Bitte an Sie, in diesem Fall vermittelnd einzugreifen. Die Arbeiter des betreffenden Gutes haben mir mitgeteilt, falls die Kündigung der beiden Arbeiter nicht zurückgenommen wird, sie geschlossen in den Streik treten werden.
Hochachtungsvoll Fritz Hansen”
Die hier aufgezeigten und ähnliche Fälle taten ein weiteres, um den sich langsam ausbreitenden Radikalisierungsprozess unter den Landarbeiter Vorschub zu leisten.
Die vorläufige Landarbeitsordnung hatte ein bemerkenswert zähes Leben. Als Übergangsregelung gedacht, überstand sie die Weimarer Republik und den Reichsnährstand der Nazizeit. Erst am 1. September 1969 konnte sie durch den Bundestag aufgehoben werden. Die land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgeber hielten hartnäckig an ihr fest, weil die in ihr enthaltenen Arbeitszeitvorschriften im Streitfall für Unorganisierte weiter galten. Die Landarbeiter-Gewerkschaften haben jedoch in dem Maße, wie sie in der Weimarer Republik und nach 1945 an Einfluss gewannen, die vorläufige Landarbeitsordnung durch Tarifverträge, die über deren Inhalt zugunsten der Landarbeiter hinausgingen, wenigstens für ihre Mitglieder, gegenstandslos gemacht. Die deutschen Landarbeiter machten ab 1919 von ihren neuen demokratischen Rechten, sich zu versammeln, gewerkschaftlich zu organisieren und notfalls für ihre Forderungen zu streiken, regen Gebrauch.
Quellen: Informationsheft des Zentralverbandes der Forst‑, Land- und Weinbergsarbeiter Deutschlands von 1919 (Gewerkschaftliche Selbsthilfe der Landarbeiter)