Mitbestimmung
Die Selbstbestimmung eines Berufsstandes wird geboren — Landwirtschaftskammern und die Idee der Selbstverwaltung (am Beispiel Schleswig-Holsteins)
Bearbeitet von Peter WeidelSchon im 18. Jahrhundert hatte es erste Ansätze für eine organisierte landwirtschaftliche Berufsförderung gegeben. Regional bildeten sich landwirtschaftliche Vereine mit dem Ziel, sich den immer rascher wachsenden Fortschritt zu Eigen zu machen. Als übergeordneter Verband bildeten diese Vereine im Jahr 1834 den schleswig-holsteinischen landwirtschaftlichen Generalverein. Dieser entwickelte in den Folgejahren eine Vielzahl von Aktivitäten, wie zum Beispiel die Gründung einer Hufbeschlagschule, einer Ackerbauschule, Versuchsstationen, landwirtschaftliche Fachschulen wie z.B. eine Meiereischule und sonstige Bildungseinrichtungen. 1883 empfahl der Generalverein den Aufbau von landwirtschaftlichen Konsumgenossenschaften. 1852 gab es einen herben Rückschlag durch die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Dänemark.
1872 entstand in Berlin als Dachorganisation der deutschen Landwirtschaft der deutsche Landwirtschaftsrat. Auch hier hatte der Generalverein seinen Platz am Tisch. Agrarpolitik und soziale Probleme gewannen bald ein besonderes Gewicht. Immer neue Spezialvereine entstanden. Mit der Zeit wuchs auch die Bedeutung dieser Vereine und des Generalvereins. Zu wirtschaftlichen Problemen im Namen der gesamten Landwirtschaft auftreten zu können, war zu einer wichtigen Aufgabe geworden. Der Generalverein hatte zunehmend wirtschaftliche Probleme. Der Ruf nach einer Umlageregelung unter einer öffentlich-rechtlichen Lösung, wie zum Beispiel bei den Handelskammern praktiziert, wurde laut. Am 30. Juni 1894 trat in Preußen das Gesetz über die Landwirtschaftskammern in Kraft. So begann zum Beispiel die Landwirtschaftskammer für die Provinz Schleswig-Holsteins ihre Tätigkeit am 30. März 1896 als Körperschaft und Selbstverwaltungseinrichtung mit ihrer Arbeit, allerdings ohne Beteiligung der Arbeitnehmer. In den Folgejahren war es eine der wesentlichen Aufgaben, die landwirtschaftliche Arbeitserledigung zu organisieren. Doch schon bald zeigten sich Engpässe und Defizite geeignete Arbeitnehmer an die Betriebe zu binden.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges waren die Mängel der Kriegs- und Nachkriegswirtschaft bei weitem nicht behoben. Der aufgestaute Missmut gegenüber der Zwangswirtschaft machte auch vor den Landwirtschaftskammern nicht halt. Die einsetzende Inflation und anhaltende Anhebung der Kammerumlage verstärkten die Unzufriedenheit der Beitragszahler. Als Folge dieser Situation bildete sich eine Vielfalt von landwirtschaftlichen Organisationen, so dass die Wahrnehmung und Interessenvertretung der Kammer geschwächt wurde.
Der Landverbund entsteht — Mitbestimmung wächst
1919 gründeten die Kammern einen so genannten Landverbund, in dem Vertreter der bäuerlichen Organisationen und der Landarbeiterschaft an einem Tisch saßen. In dieser Phase wurde eine Änderung des Kammergesetzes angestrebt um der Landwirtschaftskammer in agrarpolitischen Fragen mehr Gewicht zu verschaffen. Dem damaligen Direktor der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein schwebte vor, die landwirtschaftlichen Vereine auf Kreisebene zusammenzufassen. Aus diesen Kreisabteilungen sollten die Deputierten der beteiligten Verbände gewählt werden. Dieses Konzept setze sich allerdings nicht durch.
Im Jahr 1920 wurde das neue Gesetz zur Änderung des bestehenden Kammergesetzes erlassen. Die Kammermitglieder wurden nunmehr in geheimer Wahl von den Wahlberechtigten gewählt. Drei Jahre später wurden anstelle der angestrebten Kreisinstanzen landwirtschaftliche Ausschüsse eingeführt, die sich allerdings in den Folgejahren nicht als das geeignete Instrument erwiesen, um die agrarpolitische Führung im Lande zu übernehmen.
Zur Frage der Mitwirkung in der landwirtschaftlichen Selbstverwaltung stellte der Zentralverband der Land‑, Forst- und Weinbergarbeiter Deutschlands in einem Positionspapier von 1919 fest: “Die Hauptforderung des Zentralverbandes zu Landwirtschaftskammern ist, organisierte Arbeiter auf Vorschlag der Arbeitergewerkschaft in die Landschaftskammern zu berufen und die Kammergremien beziehungsweise Ausschüsse paritätisch zu besetzen.”
Als nun vom Zentralverband des Landarbeiterverbandes in der Beratung des Kammergesetzes im Reichstag Arbeiterkammern für die Land- und Forstwirtschaft gefordert wurden, bereiteten sowohl die preußische, wie auch die bayerische Regierung einen Gegenvorschlag vor, um die Kammer für die Landarbeiter zu vereiteln. Der bayerische Entwurf sah unter anderem vor, die Arbeitervertreter indirekt von den so genannten Versicherungsamtsbezirken wählen zu lassen. Nach diesem System sollten die Arbeitervertreter nur ein Fünftel der Kammermitglieder ausmachen. Diese und ähnliche, für die Arbeitnehmer schädliche Gesetzesplanung wurde als Reform bezeichnet. Der Zentralverband hielt deshalb eine Unterstellung der Landarbeiter zum Beispiel in Schleswig-Holstein unter die Arbeitskammern als öffentlich-rechtliche Sozial- und Interessenvertretung fest.
Die Gegner der Demokratie formieren sich — Auflösung der Landwirtschaftskammern
In den Jahren dieser Turbulenzen verschlechterte sich auch die finanzielle Situation der Landwirtschaftskammer und der Landwirtschaft allgemein. Unter diesen politischen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen gab es zunehmend Aktionen gegen die Kammern. Es gab Maßnahmen der so genannten “Schwarzen Fahne”, bis hin zu Bombenanschlägen. Die ersten Vorboten des Nationalsozialismus wurden erkennbar. Nationalsozialisten gewannen auch auf dem Lande an Boden. Sie gaben die Parole aus, die Kammer zu bekämpfen und lahm zu legen. Die Kammerarbeit war in diesen Jahren wenig erfreulich. 1933 stellten die Präsidenten und Vorstände unter dem Druck der Nationalsozialisten ihre Ämter zur Verfügung. Nach der Machtübernahme 1933 durch die Nationalsozialisten wurden die Landwirtschaftskammern aufgelöst und in den Reichsnährstand geführt. Das geschah durch Verordnung des preußischen Staatsministeriums vom 21. März 1933. Damit wurden alle Landwirtschaftskammern im ehemaligen preußischen Staatsgebiet formal aufgelöst.
Neue Landwirtschaftskammern entstehen
Mit dem Ende der Nazidiktatur am 08. Mai 1945 endete auch die Tätigkeit der deutschen Behörden. Eine Militärregierung trat an ihre Stelle. Das Konzept der Militärregierungen, außer in den sowjetisch besetzten Landesteilen, war die Organisation des Reichnährstandes bestehen zu lassen. Die führenden Verwaltungsbeamten der bisherigen Landesbauernschaft, beziehungsweise der Landwirtschaftskammern wurden entlassen und durch andere Personen ersetzt. Im Laufe des Sommers 1945 wurden von den Besatzungsmächten Kreisbauernvorsteher eingesetzt. In Schleswig-Holstein hatte die Landesregierung 1947 ihre erste Verordnung zur Neuregelung der landwirtschaftlichen Verwaltung in Schleswig-Holstein erlassen. Die dritte Verordnung regelte die Einrichtung der Landesbauernkammern unter Mitwirkung der Arbeitnehmer im Agrarbereich. Der Aufgabenkatalog war verhältnismäßig knapp gefasst, das Ehrenamt der Landesbauernkammer wurde nicht gewählt, es setzte sich aus Vertretern der landwirtschaftlichen Organisationen zusammen, die ein gesetzlich verankertes Vorschlagsrecht hatten. So auch die Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft.
Ein wesentlicher Schwerpunkt dieser neuen Landwirtschaftskammer war in dieser Zeit die Erzeugungssteigerung und Sicherstellung des Nahrungsbedarfs der Menschen, die in den Nachkriegsjahren in vielen Regionen hungern mussten. Nach Auffassung der seinerzeit beteiligten Verbände, insbesondere der Arbeitgeberverbände war die 1947 gegründete Bauernkammer mit einer Reihe organisatorischer und finanzieller Unzulänglichkeiten behaftet, die insbesondere nach der Währungsreform 1948 deutlich wurden. Hinzu kam, das die paritätische Beteiligung der Arbeitnehmer der Arbeitgeberseite ein Dorn im Auge war. Aus Sicht der Bauernverbände und des Grundbesitzes war die Zusammensetzung der Selbstverwaltung unbefriedigend, es gab keine Urwahl und die Landarbeiter waren nach Auffassung der Verbände durch die Parität überrepräsentiert. Der Verfasser des Buches “Agrarpolitik zwischen Rendsburg und Brüssel” stellt in seinem Buch dazu fest: “Landesbauernschaft, Landesbauernkammer, Landwirtschaftskammer, hinter diesen drei Begriffen verbirgt sich die wechselvolle Entstehungsgeschichte einer bedeutenden Selbsthilfeeinrichtung der schleswig-holsteinischen Landwirtschaft: In den Jahren nach dem Zusammenbruch von 1945 gab es Zeiten in denen vom Bauernverband ernstlich erwogen wurde, die Landesbauernkammer durch Zurückziehung der bäuerlichen Deputierten lahm zu legen und zur Auflösung zu zwingen. Doch mit dem Landwirtschaftskammergesetz vom 19. Mai 1953, das die Institution auf eine neue, für Jahrzehnte gültige Rechtsgrundlage stellte war dieser Gedanke aus der Welt. Die Kammer hatte weitgehend den Anschluss an die alte Landwirtschaftskammer vor 1933 wieder gefunden.”
Ehrenurkunde der Landesbauernkammer Schleswig- Holstein, 1949
Privateigentum WeidelDie Parität wird zurückgedrängt
Nachdem eine konservative Landesregierung eine vorher von Sozialdemokraten geführte Landesregierung ablöste, beschloss der Landtag eine neue gesetzliche Regelung im Gesetz über die Verwaltung und die Bauernkammer Schleswig-Holsteins. Das neue Gesetz sah keine paritätische Mitwirkung der Arbeitnehmer mehr vor, sondern vielmehr die so genannte Drittelparität. Positiv ist dagegen festzuhalten, dass in dem ausführlichen Aufgabenkatalog die Förderung der Arbeitnehmer festgeschrieben wurde. Dazu gehörte beispielsweise:
- die fachliche Förderung und Betreuung
- Regelungen der praktischen Berufsausbildung
- die pflichtschulmäßigen Aus-und Fortbildungen durchzuführen
- den Bau von Landarbeiterwohnungen zu fördern und für eine einwandfreie Unterbringung der Arbeitnehmer einzutreten
- die Betreuung aller in der Landwirtschaft Beschäftigten wahrzunehmen.
In den Folgejahren wurden insbesondere in den süddeutschen Bundesländern Landwirtschaftskammern abgeschafft. Aktuell gibt es noch neun Landschaftskammern in der Rechtsform der Herrschaft des öffentlichen Rechts. Sie haben unterschiedliche rechtliche und satzungsmäßige Aufgaben auszuüben, für die Regelung von Belangen der Land- und Forstwirtschaft, des Gartenbaus und der Fischerei, insbesondere wenn sie eine Scharnierfunktion zwischen Berufsstand und Politik haben. Dazu gehören unter anderem die allgemeine Förderung aller Beschäftigten im Agrarbereich, die betriebliche Förderung und Beratung sowie die Berufsausbildung, die Weiterbildung und Qualifizierung aller Beschäftigten. Fast alle Kammern haben mit unterschiedlichem Umfang so genannte hoheitliche Aufgaben im Auftrage der Landesregierungen zu erfüllen. Diese Aufgabe übernehmen in den süd- und ostdeutschen Bundesländern die Landwirtschaftsämter und ähnliche Einrichtungen der unteren Verwaltungsbehörden. Landwirtschaftskammern sind heute im Verband der Landwirtschaftskammern (VLK), der auf Bundes ‑und politischer Ebene als Bindeglied zu den Fachministerien arbeitet, zusammengeschlossen.
Quelle: 100 Jahre Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein