Soziale Absicherung
Die Krankenversicherung der Landarbeiter bis 1972
Bearbeitet von Peter WeidelDas Krankenversicherungsgesetz von 1883 ließ die Landwirtschaft aus verschiedenen Gründen unbeachtet. Die Argumente gegen ein solches Gesetzesvorhaben waren mehr als haarig, entsprachen aber dem damaligen Zeitgeist und dem Einfluss der Großgrundbesitzer.
So wurde unter anderen gegen eine Krankenversicherungspflicht argumentiert, dass in der Landwirtschaft ein großer Teil der Landarbeiter nur vorübergehend, und darüber hinaus von verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt würden, so dass die Familien- und Nachbarschaftshilfe genügt. Darüber hinaus biete ein gutes Verhältnis zum Gutsbesitzer und dementsprechend Sachleistungen ausreichenden Schutz und schließlich Ärzte und Krankenkassen auf dem Lande fehlen. Aus diesem Grunde sei es mehr als konsequent, eine ordnungsgemäße Durchführung und Überwachung der geplanten Versicherungspflicht anzuzweifeln.
Erst 30 Jahre später wurden mit der Reichsversicherungsordnung zum 1. Januar 1914 die ersten Landkrankenkassen gebildet. Damit war für die Beschäftigten in der Landwirtschaft ein berufsständischer Träger der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen worden. Nach der gesetzlichen Regelung gemäß § 235 Reichsversicherungsordnung, waren die in der Landwirtschaft und die im Wandergewerbe Beschäftigten, sowie die Hausgehilfinnen pflichtversichert, wenn ihre Beschäftigung den Hauptberuf bildete. Versicherungsberechtigt waren auch Arbeiter und Angestellte, die nicht die Voraussetzungen erfüllten, weiterhin Familienangehörige der Arbeitgeber, die ohne ein formales Arbeitsverhältnis und ohne Entgelt im Betrieb des Besitzers tätig waren. Als weitere Gruppe der so genannten Versicherungsberechtigten zählten die Unternehmer, die in ihren Betrieben regelmäßig keine Fremdarbeiter oder höchstens zwei versicherungspflichtige Arbeitnehmer beschäftigten.
Land- und Forstarbeiter rechtlich benachteiligt
Eine Mitwirkung oder Mitbestimmung der beschäftigten Arbeitnehmer in diesen berufsständischen Einrichtungen war ausgeschlossen und scheiterte am Einfluss des übermächtigen Großgrundbesitzes.
In seinem Grundsatzprogramm forderte 1919 der Zentralverband der Forst‑, Land- und Weinbergarbeiter Deutschlands die Streichung und Beseitigung aller Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung, durch welche die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter rechtlich und materiell schlechter gestellt wurden als die gewerblichen Arbeiter der übrigen Wirtschaft. Als Beispiel wird im Grundsatzpapier bemängelt, dass Landarbeiter kein Wahlrecht zu den Vorständen und Ausschüssen der Krankenkasse besitzen. Diese Vertreter wurden von Mitgliedern des Gemeindeverbandes gewählt. Dagegen wählten in den Ortskrankenkassen die Mitglieder ihre Vertreter in diese Kassenkörperschaften selbst. Denselben Zweck der Ausgrenzung verfolgten zum Nachteil der Arbeiter die weiteren Bestimmungen der Paragraphen 420–425 RVO. Für Landarbeiter wurde bei Arbeitsunfähigkeit der „Ortslohn“ und nicht der eigene Verdienst als Maßstab für die Berechnung des Krankengeldes zugrunde gelegt. Dadurch kam es zu einer geringeren Berechnung des Krankengeldes. Diese und ähnliche Bestimmungen waren in vielen Gesetzen zu Lasten landwirtschaftlicher Beschäftigten zu finden. So wurden durch Verkürzung des Wochengeldes und des Stillgeldes die ländlichen Arbeiterinnen diskriminiert.
Die Beseitigung von Benachteiligungen der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft in zahlreichen sozial- und arbeitsrechtlichen Gesetzen und ihre Gleichstellung mit den Arbeitnehmern der übrigen Wirtschaft war von Anfang an eine Hauptaufgabe der Landarbeitergewerkschaft.
GGLF fordert gleiche Rechte
Eine Hauptforderung der GGLF nach ihrer Neugründung war die Abschaffung aller noch bestehenden diskriminierenden Ausnahmebestimmungen für die Arbeitnehmer des Gartenbaues, Landwirtschaft und der Forstwirtschaft. Nach 1945 gab es nicht in allen Teilen des Bundesgebietes Landkrankenkassen (LKK). Ihre Errichtung war in das Ermessen des zuständigen Gemeindeverbandes gestellt. Die Länder konnten danach bestimmen, dass für Gebietsteile des Landes oder für das ganze Land diese Kassen neben den allgemeinen Ortskrankenkassen errichtet werden. Eine wesentliche Voraussetzung für die Errichtung einer LKK war das Vorhandensein von mindestens 1.000 Pflichtversicherten. 1954 gab es im Bundesgebiet 102 Landkrankenkassen, verteilt auf fünf Bundesländer. Mehr als die Hälfte dieser Kassen bestanden in den Bundesländern Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Zu diesem Zeitpunkt hatte die landwirtschaftliche Krankenkasse insgesamt und bundesweit 555.875 Mitglieder. Die Institution LKK betrachtete es als Mangel, dass diese Einrichtung nicht in allen Ländern bestanden und forderte in einer Entschließung der damaligen Vertreterversammlung eine Revision der Rechtsvorschriften über den Kreis der Versicherten, da viele Ergänzungs- und Veredelungsbetriebe in der Be- und Verarbeitung entstanden, die ebenfalls nach damaliger Rechtsauffassung der Landwirtschaft zuzurechnen waren, obwohl sie keinen Boden bewirtschafteten.
Informationen der Landkrankenkasse zu Lohn- und Abzugsfragen, 1955
Das Ende der Landkrankenkassen
Schon zu Beginn der 60iger Jahre begann die Diskussion um eine allgemeine Reform der Krankenversicherung, die jedoch erst in Etappen gegen Ende des Jahrzehnts in Gang kam. Für die Gewerkschaft war dabei die Frage von besonderer Bedeutung, ob die Landkrankenkassen, die nicht flächendeckend vorhanden waren, weiter ausgedehnt oder aufgelöst werden sollten. Diese Frage stellte sich sowohl wegen der immer stärkeren Versichertenanteile aus den selbständigen Landwirten, die die Arbeitnehmer in der Selbstverwaltung in die Minderheit drängten, als auch aus den Bestrebungen, eine eigene Krankenversicherung für die Landwirte zu schaffen. 1970 kam es zu einem Gesetzesentwurf des Bundesarbeitsministers, der eine Auflösung der Landkrankenkassen forderte und die Überführung der versicherten Arbeitnehmer in die allgemeine Ortskrankenkasse und die Gründung selbstständiger Landwirtschaftlicher Krankenkassen für die Landwirte und ihrer Familienangehörigen vorsah. Das Gesetz trat am 1. Oktober 1972 in Kraft. Zwar war die Auflösung der Landkrankenkassen auch bei den von der Gewerkschaft gestellten Mitgliedern der Selbstverwaltung umstritten. Später zeigte sich die Richtigkeit dieses Schrittes. Die Landkrankenkassen hätten bei der weiteren Struktur- und Kostenentwicklung nicht mehr aufrechterhalten werden können. Mit dieser Gesetzesinitiative war die angestrebte Gleichstellung auf dem Gebiet der Krankenversicherung erreicht.
Quellen: Helmut Schmalz, Agrarpolitik ohne Scheuklappen, Bund Verlag 1972Eigene Unterlagen und Aufzeichnungen