Neue Armut im ländlichen Raum — Arbeit und trotzdem Probleme
Warum diese Kampagne?
Bearbeitet von Peter Weidel
Gemeint waren nicht die relativen Gewinner der beachtlichen Einkommens- und Vermögensentwicklung der letzten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, wie zum Beispiel Unternehmer und Freiberufler, sondern die eindeutigen Verlierer mit geringem Einkommen, nämlich die Beschäftigten im grünen Bereich.
In der sozialen Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland kam in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine neue Form der Armut dazu, nämlich die Armut der arbeitslosen landwirtschaftlichen Arbeiter und Gärtner. Winterarbeitslosigkeit, geringes Einkommen und ein Überbesatz an Arbeitskräften bedingt durch den ungebrochenen Strukturwandel in der Landwirtschaft führten zu übergroßen finanziellen Härten der Arbeitnehmer. Das Ausmaß ihrer Benachteiligung war gewachsen, weil der soziale Abstieg gleichzeitig in mehreren Lebensbereichen stattfand. Während die Unternehmen in der Landwirtschaft bei der Betriebsaufgabe großzügige Unterstützungen vom Staat erhielten, gab es für Arbeitnehmer bei der Betriebsaufgabe nur mangelndes Sozialeinkommen, so bei den Renten und bei der Arbeitslosenunterstützung.
Die Tradition wurde fortgesetzt, bei denen zu kürzen, zu drücken, die weniger als andere oder kaum am Einkommenszuwachs beteiligt waren. Denn sie hatten weniger politisches Gewicht als andere Interessengruppen, die sich dagegen massiv wehren konnten. Aus dieser Situation heraus bildeten die Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft, die Landvolkshochschule Koppelsberg und der kirchliche Dienst in der Arbeitswelt ein Aktionsbündnis, um die Situation der Armut auf dem Lande aufzuarbeiten und den betroffenen Menschen zu helfen.
Es gab zu diesem Zeitpunkt keine spezielle Untersuchung, die die besondere Lage der Arbeitnehmer in der Landwirtschaft und auch anderer Berufsgruppen im ländlichen Raum aufzeigte, die neben der Ausgrenzung von Sozialleistungen zusätzlich von der Agrar- und Strukturpolitik negativ betroffen waren. Es stellte sich daher die Frage: Was ist Armut?
Diese Frage war eindeutig zu beantworten. Welche Aktivitäten waren erforderlich, diesen Missstand zu beseitigen. In vielen Veranstaltungen in Schleswig Holstein wurde von den beteiligten Akteuren hervorgehoben, dass Armut nicht allein irgendwo in der Welt sei, sondern konkret auch im eigenen Land als gesellschaftlicher Missstand beseitigt werden sollte. Armut war in Beziehung zu setzen zu den übrigen Menschen unserer Gesellschaft, die die Möglichkeiten hatten materielle Güter und Dienstleistungen zu erwerben, sowie die Chance, am sozialen und geistigen Leben ihrer Umgebung teilnehmen zu können.
Armut versteckt sich, diese Aussage wurde immer wieder bestätigt. Betroffene versuchen, ihre Situation zu verstecken und zu verheimlichen, weil sie befürchten sozial geächtet und noch mehr isoliert zu werden.
Das gemeinsame Anliegen der Bündnispartner war es, Armut öffentlich zu machen und dazu beizutragen den betroffenen Menschen, Familien, Eltern und Kindern konkret in dieser Situation zu helfen, durch Seelsorge und Beratung, aber auch durch ein klares politisches Engagement.
Zur Situation landwirtschaftlicher Arbeitnehmer in Schleswig Holstein wurde 1986 folgendes festgestellt: Bei allen berechtigten Diskussionen und Forderungen, die auf die katastrophale wirtschaftliche und sozialen Lage vor allem der kleinen und mittleren bäuerlichen Betriebe hinwiesen, war die Situation der agrarischen Arbeitnehmer noch schlechter als die der Selbstständigen zu beurteilen. Aus Sicht der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft hatte dies mehrere Gründe:
- die Situation der unteren Einkommensgruppen wurde weitestgehend totgeschwiegen. Sie waren eine kleine schwache Gruppe und hatten nur in ihrer Gewerkschaft eine kleine Lobby. Arbeitnehmer tauchten in der allgemeinen agrarpolitischen Diskussion gegebenenfalls als Kostenfaktor in Statistiken auf, ohne die Probleme anzusprechen. Diskussionen über Agrarprobleme drehten sich fast ausschließlich um Einkommensverluste bei Bauern, den Butterbergen oder Subventionen und den anderen Themen, die einen engen Zusammenhang mit den Selbstständigen in der Landwirtschaft hatten. Sie bildeten den Mittelpunkt jeglicher agrarpolitischen Auseinandersetzung. Die tariflichen Löhne in der Landwirtschaft und die Einkommenssituation der Landarbeiter spielten dabei keine Rolle. Aus Scham, ihre Verhältnisse nach außen zu zeigen verzichteten viele dieser Arbeitnehmer auf die ihnen gesetzlich zustehenden Hilfen.
- Bei Erwerbslosigkeit bedeutete schon der Bezug des Arbeitslosengeldes und noch mehr der Arbeitslosenhilfe einen tiefen sozialen Abstieg. Die wesentlich geringere Arbeitslosenhilfe setzte in vielen Fällen schon im dritten oder vierten Jahre der Winterarbeitslosigkeit ein. Arbeitslose galten als Schmarotzer.
- Für junge Arbeitnehmer gab es keine langfristigen Perspektiven. Aus heutiger Sicht wo Fachkräfte in der Landwirtschaft händeringend gesucht werden, eine kaum nachvollziehbare Situation.
Forderungen der GGLF nach zusätzlichen Arbeitsplätzen im ländlichen Raum.
Die arbeitsmarktpolitischen Einbrüche, beginnend Mitte 1976 bis zur letzten Hälfte des nächsten Jahrzehnts hatten nicht nur zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf einen Nachkriegsrekord geführt, sondern zugleich die regionalen Unterschiede in den Arbeitsamtsbezirken verstärkt. Besonders an der Westküste von Schleswig Holstein lag die Arbeitslosenquote über 12%, in Regionen wie zum Beispiel in Eiderstedt an der Westküste, erhöhte sich die Quote auf 20%. In diesen Zahlen steckt die hohe Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft. Gerade in diesen strukturschwachen ländlichen Regionen wurden Arbeitsplätze dringend benötigt. Doch die Landes- und Bundesregierung bediente sich nicht nur der beschäftigungspolitischen Enthaltsamkeit, sondern förderte die konservative Rückzugsstrategie, um sich aus der sozial- und beschäftigungspolitischen Verantwortung zu ziehen. Die hohe Arbeitslosigkeit mit ihren verheerenden Folgen wurde politisch akzeptiert. Initiativen aus Bonn waren nicht in Sicht. Die GGLF forderte daher zuverlässige Informationen über die Entwicklung der Lohnarbeit sowie den Wandel der Berufsstrukturen. Die Schaffung von sogenannten Beschäftigungs-Initiativen oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ( ABM) hatte zum Ziel den Abbau der Arbeitslosigkeit zu unterstützen. Auch der Rat der europäischen Gemeinschaft erkannte in seiner Entschließung aus 1984, dass diese Maßnahmen zumindest finanziell zu einer Gesundung der Regionen beitragen. Aus Sicht der Gewerkschaft fehlte es aber den vielen Initiativen an einer Koordinierung arbeitsmarktpolitischer Aktivitäten. AB-Maßnahmen wurden sehr kritisch betrachtet, da viele Dauerarbeitsplätze durch diese Maßnahmen ersetzt wurden ohne dass daraus wieder feste Arbeitsplätze entstanden. Die Gewerkschaft forderte in diesem Zusammenhang die Schaffung von Förder- und Beratungseinrichtungen zur Unterstützung lokaler Beschäftigungs- und Ausbildungsinitiativen die folgende Aufgaben übernehmen sollten:
- konzeptionelle und technische Hilfe zur Entwicklung lokaler Ausbildungs- und Beschäftigungsinitiativen zur Unterstützung bei der Ansiedlung von neuen Produktmöglichkeiten und Märkten
- Beratung und Information über die wirksame Verwendung von Fördermitteln zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.
- Die Sammlung, Auswertung und Dokumentation von Programm- und ProjektInformationen.
Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und die Notwendigkeit ihrer sozialen Beherrschung verlangten nach Auffassung der GGLF einen Ausbau und eine Anpassung der beruflichen Aus- und Fortbildung. Sie forderte daher
- Anpassung der Ausbildung an die technische Entwicklung
- Berufliche und schulische Qualifizierung der von Arbeitslosigkeit betroffenen Landarbeiter und Gärtner und Vereinbarung einer tariflichen Regelung zur Kostenübernahme durch den Betrieb bei Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen. Hier sollte eine Beteiligung durch öffentliche Mittel angestrebt werden.
Die Gewerkschaft forderte weiterhin die
- finanzielle Sicherung der Arbeitslosen zu verbessern
- das Arbeitslosengeld grundsätzlich für alle Arbeitslosen ohne Altersbegrenzung zu verlängern
- eine bedarfsorientierte Mindestsicherung bei Arbeitslosigkeit einzuführen, die dann eingreift, wenn die Leistungen unter den Sozialhilfebedarf sinken
- die unterschiedliche Behandlung von kinderlosen und anderen Arbeitslosen aufzugeben, und die Sozialhilfeleistungen bedarfsgerecht und nicht politisch willkürlich festzusetzen
- den Ausgrenzungsprozess von Arbeitslosen aus dem Leistungsbezug des Arbeitsförderungsgesetzes zu stoppen und umzuändern, damit Sozialhilfe nicht zum Ersatz für Leistungen des Arbeitsamtes werden.
Es ist ein überregionaler Sozialplan einzurichten der den landwirtschaftlichen Strukturwandel durch soziale Maßnahmen flankiert. Der sich beschleunigende landwirtschaftliche Strukturwandel traf in der Vergangenheit jedoch immer zuerst die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer. Vor einer Betriebsauflösung gehen zuerst die sozial Schwächsten, die Landarbeiter. Dieser Zustand ist zu beenden, so die GGLF, denn sie verlieren somit als erste ihre berufliche Existenz. In zunehmender Zahl wurden weiterhin Landarbeitern entlassen. Wegen der ohnehin geringen Entlohnung führte dies bei Arbeitslosigkeit zu übergroßen finanziellen Härten. Das betrieblicherseits keine finanzielle Hilfe im Sinne eines Sozialplans finanziert werden konnte, sollte alternativ im Zuge der sozialen Symmetrie auch den landwirtschaftlichen Arbeitnehmern eine entsprechende überbetriebliche Regelung und Finanzierung aus staatlichen Mitteln gewährt werden. Für ältere Arbeitslose Arbeitnehmer der Agrarwirtschaft sollte deshalb dringend ein angemessenes Sozialprogramm entwickelt werden.
Quelle: Material zur Kampagne „Neue Armut im ländlichen Raum“, 1986