Arbeitsschutz / Unfallverhütung
Anfänge und Entstehung der Unfallversicherung in der deutschen Landwirtschaft
Bearbeitet von Peter WeidelDer stürmische Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat, beginnend in der Mitte des 19. Jahrhunderts, führte zu erheblichen Veränderungen in der sozialen Struktur der städtischen und ländlichen Bevölkerung. Die bis dahin durch Großfamilien etc. gewährte Fürsorge verlor zunehmend an Wirksamkeit. Aufgrund der niedrigen, nicht einmal das Existenzminimum erreichenden, Einkommen war es den Arbeitern nicht möglich, aus eigener Kraft Vorsorge für Notsituationen zu treffen. Schadenersatz für Unfälle, die bei der Arbeit entstanden und durch ein Verschulden des Unternehmers verursacht waren, konnten nach den bestehenden Haftungsgrundsätzen nur in seltenen Fällen realisiert werden. Ein Verschulden musste häufig in einem Zivilprozess bewiesen werden und unterlag einer schwierigen Beweisführung. Aufgrund der hohen Anwalts- und Gerichtskosten war ein Arbeitnehmer in der Regel nicht in der Lage eine juristische Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber zu führen.
Der Arbeiter, der in erster Linie den Unfallgefahren ausgesetzt war, konnte außerdem seinen Anspruch auf Schadenersatz in einer prozessualen Auseinandersetzung nur dann mit Erfolg führen, sofern er seinem Arbeitgeber eine Verletzung des Arbeitsvertrages nachweisen oder sich auf ein Delikt des Unternehmers stützen konnte. Beide rechtlichen Möglichkeiten waren jedoch nahezu aussichtslos und scheiterten regelmäßig an der Beweissituation.
„Nicht der Schaden ist verpflichtet zum Schadensersatz, sondern die Schuld“
Diese These der Rechtswissenschaft zur Schadenersatzproblematik war in der Mitte des 19. Jahrhunderts gängige Rechtsauffassung. Allerdings hatte der Gesetzgeber bereits im preußischen Eisenbahngesetz von 1838 eine Abkehr von dieser These zur Gefährdungshaftung angeordnet. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei die juristische Bewertung, der vom allgemeinen Deutschen Recht beeinflusste Teil der Rechtswissenschaft, der abgeleitet vom Gesindevertrag vom so genannten Austauschgedanken beherrscht war und eine Reihe von Fürsorgebestimmungen für das Gesinde beinhaltete. So zum Beispiel die Pflicht der Herrschaft gegenüber dem Dienstboten, der sich durch die Arbeit eine Krankheit zugezogen hatte, weiterhin Verpflegung zu gewähren und für die Wiederherstellung seiner Gesundheit zu sorgen. Dieser Austauschgedanke im Gesinderecht, der angeblich der Herrschaft drückende Lasten aufgebürdete, wurde plötzlich als Anomalie bezeichnet und der Versuch gestartet, diese Regelung restriktiv zu Lasten der Bediensteten auszulegen. Die oft nicht vorhandene Hilfe und Fürsorge in Notfällen veranlasste Reichskanzler von Bismarck, Maßnahmen für eine umfassende soziale Sicherung der arbeitenden Bevölkerung zu ergreifen.
Gesetz zur Sozialversicherung
Die von ihm im Reichstag am 17. November 1881 als kaiserliche Botschaft verlesende Thronrede Kaiser Wilhelms I. löste die nachfolgenden Gesetze zur Sozialversicherung im Deutschen Reich aus. Das Gesetz über die Unfall- und Krankenversicherung der in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen führte somit zur Unfallversicherung für die Landwirtschaft. Ein weiteres herausragendes Merkmal dieser neuen gesetzlichen Regelungen war die Einbindung der landwirtschaftlichen Unternehmer und ihrer Familienangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen in die gesetzliche Unfallversicherung. Die Ausführung dieser neuen Sozialversicherungsbestimmungen erfolgte im Deutschen Reich durch 48 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, die aufgrund von Vorschlägen der jeweiligen Landesregierungen für bestimmte Bezirke gebildet wurden.
Als 1884 der Reichstag den dritten Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes annahm und damit im Deutschen Reich die gesetzliche Unfallversicherung wirksam wurde, standen die Entschädigungsregelungen im Mittelpunkt des gesetzgeberischen Interesses, das heißt die Unfallverhütung, die eigentlich mehr dem Arbeiterschutz zuzurechnen ist, war noch nicht als allgemeine Notwendigkeit anerkannt. Das, nach Überwindung erheblicher Schwierigkeiten, am 6. Juli 1884 beschlossene Unfallversicherungsgesetz beruhte auf folgenden Grundsätzen: die private Haftpflicht des Unternehmers gegenüber seinen Arbeitnehmern wird nunmehr abgelöst und durch eine öffentlich rechtlich geregelte Unfallversicherung ersetzt.
“Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Leistungen aus der Unfallversicherung richtet sich gegen die in einer Berufsgenossenschaft zusammengeschlossene Gemeinschaft der Unternehmer. Die gesetzlich vorgesehenen Leistungen der Unfallversicherung werden unabhängig von der Tatsache wer den Unfall verursacht hat erbracht. Auch wenn der Verletzte durch Leichtsinn, Fahrlässigkeit oder verbotswidriges Handeln selbst verschuldet hat, behält er den Anspruch auf Leistungen. Nur vorsätzliches Herbeiführen des Unfalles schließt diesen Anspruch aus. Die zur Deckung der Ausgaben der Berufsgenossenschaft erforderlichen Mittel sind von den Unternehmern aufzubringen, die Arbeitnehmer sind beitragsfrei.”
Mit dieser gesetzlichen Regelung war zweierlei erreicht worden:
1. Prozesse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und Störungen des Arbeitsfriedens durch Streitigkeiten über Schadenersatz bei Arbeitnehmerunfällen und Streitigkeiten über Schadenersatz bei Arbeitsunfällen waren damit ausgeschlossen.
2. Der Verletzte oder Anspruchsberechtigte erhielt einen sicheren, im Rechtszuge schnell durchsetzbaren, Anspruch gegen die Berufsgenossenschaft als Träger der Haftpflichtansprüche des Arbeitnehmers.
Die Berufsgenossenschaften hatten als staatliche Einrichtung zum Einen die Aufgabe Arbeitsunfälle zu entschädigen zum Anderen Arbeitsunfälle zu verhüten. Dafür waren sie mit allen Kompetenzen ausgestattet.
Entschädigung ohne Klärung der Verschuldensfrage
Mit der Verabschiedung des Unfallversicherungsgesetzes war nunmehr die zivilrechtliche Haftung des Arbeitgebers bis zur “ Vorsatzgrenze“ aufgehoben und das weitere Ziel des Gesetzes, Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern über die Entschädigungsansprüche auszuschließen, war damit erreicht. In der Tat gehörten die Entschädigungsleistungen an den verunfallten Arbeiter ohne Rücksicht auf die Verschuldensfrage und der zivilrechtliche Haftungsausschluss zu den herausragenden Prinzipien der Unfallversicherung.
Beginn der Landwirtschaftlichen Unfallversicherung als staatliche Einrichtung und Selbstverwaltung
Die gesetzliche Unfallversicherung besteht von Beginn an in Form der Selbstverwaltung. In der so genannten kaiserlichen Botschaft wurde durch Bismarck sein Programm für die Einführung einer umfassenden Sozialversicherung verkündet. Damit waren die Weichen für die Umsetzung der Unfallversicherung gestellt. Hervorzuheben ist allerdings, dass zu diesem Zeitpunkt, aber auch in späteren Jahren, eine Beteiligung der Arbeitnehmer an der Selbstverwaltung nicht vorgesehen war. Allerdings ist in diesem Zusammenhang auch festzustellen, dass es zum Zeitpunkt der Verkündung dieser Gesetze — zumindest auf Arbeitnehmerseite — keine geeigneten Organisationsstrukturen gab, die eine Beteiligung von Arbeitnehmern sicherstellen konnte. Nach Paragraph vier des ersten Statuts vom 23. Oktober 1888 wurden die Angelegenheiten der Unfallverhütung durch folgende Organe der Selbstverwaltung wahrgenommen:
- Genossenschaftsversammlung
- Genossenschaftsvorstand
- Genossenschaftsausschuss
- Vertrauensmänner
Die Genossenschaftsversammlung hatte insbesondere über die Änderung der Satzung zu beschließen, den Vorstand und die Ausschüsse zu wählen, die Verwaltungskosten festzustellen und die Jahresrechnung abzunehmen. Die landwirtschaftlichen Unternehmer wählten die Mitglieder der Genossenschaftsversammlung für vier Jahre in Bezirksversammlungen. Diese wählte wiederum die Vorstandsmitglieder. Alle Gremien setzen sich ohne Beteiligung der Arbeitnehmer zusammen.
Gewerkschaften fordern Mitbestimmung
Nachdem in den folgenden zwei Jahrzehnten die Organisationsstrukturen der Arbeitnehmer gefestigt wurden, forderte die Landarbeitergewerkschaft eine Beteiligung an allen Selbstverwaltungseinrichtungen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und Beendigung des preußischen Staates forderte die damalige Landarbeiterorganisation des Zentralverbandes der Forst‑, Land- und Weinbergarbeiter Deutschlands in ihrem Landarbeiterprogramm von 1919 zur Kranken- und Unfallversicherung der Landarbeiter Folgendes: die Beseitigung aller Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung, durch welche die land-und forstwirtschaftlichen Arbeitnehmer rechtlich und materiell schlechter gestellt sind als die gewerblichen Arbeiter. Dazu gehörte unter anderem das fehlende Wahlrecht zu den Vorständen und Ausschüssen der damaligen Landkrankenkassen und anderer berufsständischer, öffentlich rechtlicher Einrichtungen. Die Umsetzung dieser Forderungen konnte erst nach dem Zweiten Weltkrieg in vollem Umfang realisiert werden. Das Gesetz über die Selbstverwaltung und die Änderung von Vorschriften auf dem Gebiet der Sozialversicherung vom 20. Februar 1951 führte die Selbstverwaltung und die Beteiligung der Arbeitnehmer bei dem Träger der Unfallversicherung in der Landwirtschaft wieder ein.
Bei diesen berufsständischen Einrichtungen setzen sich nunmehr die Selbstverwaltungsorgane, wie die Vertreterversammlungen und die Vorstände, zu je einem Drittel aus versicherten Arbeitnehmern, Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte und Arbeitgebern zusammen. Damit war die Beteiligung der Arbeitnehmer in Form der so genannten Drittelparität auch in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung eingeführt.
Quellen: Jahresberichte der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften — 100 Jahre gesetzliche Unfallversicherung 1885–1985, Hg. Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften/ Bundesverband der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften,