Wander- und Saisonarbeit
Saisonarbeit in Deutschland nach 1945
Texte von Gustav Grieb und Thomas HentschelDie migrantische Saisonarbeit ist seit ca. 1860 ein fester Bestandteil der Wertschöpfung in der deutschen Landwirtschaft. Anbau- und Ernteverfahren, welche viele Arbeitszeitstunden Handarbeit beanspruchen und nicht mechanisiert durchgeführt werden können, werden in Deutschland zu dem größten Teil von migrantischen Saisonarbeitskräften übernommen. Besonders in den Sonderkulturen des Obst- und Weinbaues ist der Bedarf besonders hoch.Der Begriff Saisonarbeit ist in Deutschland nicht klar abgrenzbar und teilweise irreführend (Huschik et al 2022, S.2). Es gibt keine klare zeitliche Definition von Saison. Mitunter sind Arbeitskräfte 8 Monate beschäftigt und gehen dann in die Winterarbeitslosigkeit. Obwohl sie nur saisonal beschäftigt sind, werden sie, zumindest nicht in Deutschland als Saisonarbeitskräfte bezeichnet.Über die Anzahl von Saisonarbeitskräfte liegen nur mehr oder weniger genaue Zahlen vor. Neben den offiziellen Zahlen, vornehmlich den Agrarstatistiken gibt es einen großen Anteil an nicht dokumentierter Arbeit, umgangssprachlich als Schwarzarbeit bezeichnet. In einer Studie aus dem Jahre 2010 schätzte das Forum Soziale Innovation (FSI), dass in der europäischen Landwirtschaft ca. 25% der landwirtschaftlichen Arbeit durch illegale Beschäftigung erledigt worden ist, in Deutschland auf ca. 5%. (Forum Soziale Innovation, S.25), dies vor der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland.Die statistischen Zahlen der Agrarstrukturerhebung, die alle 10 Jahre stattfand sind historisch nur eingeschränkt vergleichbar (BMEL, 2017, S.17). Sie zeigen aber grundsätzliche Tendenzen auf. Bezüglich der Arbeitskräfte wird mit der statistischen Größe AKE (Arbeitskräfteeinheit) gearbeitet, von der im Bereich der Saisonarbeitskräfte angezweifelt wird, ob sie der realen Arbeitsleistung entspricht. So kann eine Arbeitskraft nur mit 1 AKE bewertet werden, auch wenn sie mehr als 8 h/Tag im Betrieb tätig ist (ebenda S.13).Die soziale Herkunft der Wanderarbeitskräfte verändert sich kontinuierlich. Das sind die Erfahrungen des Europäischen Vereins für Wanderarbeiterfragen (EVW) und des PECO-Instituts e.V., die die Situation der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte seit ca. 20 Jahren beobachten. Zunehmend werden Menschen auf den Feldern angetroffen, die aus armen ländlichen Regionen Mittel- und Osteuropas kommen. Zuletzt besonders in Rheinland-Pfalz auch Minderheiten in ihren Heimatländern, wie z.B. Roma aus Rumänien. Über den Bildungsstand der in der deutschen Landwirtschaft tätigen Wanderarbeitskräfte liegen keine empirisch abgesicherten Daten vor. In einzelnen internen Untersuchungen, z.B. des PECO-Instituts werden die ohne Bildungsabschluss Tätigen auf über 30% geschätzt. Andererseits gibt es die verschiedensten sozialen Schichtungen, von Studierenden, Facharbeiter bis Professoren (Huschik et al., S.47) welche auf den Feldern angetroffen wurden.
Saisonarbeit nach 1945
In Westdeutschland war migrantische Saisonarbeit nach dem Krieg, zunächst kein Thema. Konrad Adenauer, damaliger Bundeskanzler, setzte auf eine Vollbeschäftigung der einheimischen Bevölkerung, weshalb der Einsatz von migrantischen Arbeitskräften nicht vorgesehen war. Nach dem Krieg lebten viele Geflüchtete auf dem Land und konnten daher die landwirtschaftliche Saisonarbeit tragen. Doch das Wirtschaftswachstum in den Städten beförderte das Reichtum der Menschen in den Ballungsräumen und so folgte eine große Landflucht vieler Bewohner, da auf dem Land sehr prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen herrschten.Lange Zeit wurde auf die Beschäftigung von migrantischen Saisonarbeitskräften verzichtet, da es in Deutschland eine hohe Anzahl an Arbeitslosen gab (1954 > 7% ) . Adenauers Idee einer Vollbeschäftigung konnte aber nicht in die Tat umgesetzt werden, da die Verteilung der Arbeitslosen unpassend für die benötigten Einsatzbereiche war. Beispielsweise gab es viele Arbeitslose in Schleswig-Holstein während vor allem in Baden-Württemberg und Bayern Arbeitskräfte fehlten.In Ostdeutschland haben nach dem Krieg ebenso viele geflüchtete Menschen auf dem Land gelebt und haben dort in der Landwirtschaft gearbeitet. Hier war die Landflucht auch nicht so stark wie in der BRD, weshalb weniger große Lücken geschlossen werden mussten.
Saisonarbeit nach 1955
Nach 1955 schloss die Bundesrepublik Deutschland Anwerbeabkommen mit verschiedenen anderen europäischen und nordafrikanischen Ländern auf deren Grundlage Arbeitskräfte nach Deutschland einreisen konnten.Daraufhin wurden 1955 erste Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen um Arbeitskräfte für die Landwirtschaft zu gewinnen. In diesen Abkommen wurde die Rekrutierung der Arbeitskräfte sowie ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse in Deutschland festgelegt.Die Rekrutierung erfolgte damals über die Arbeitsämter. Die Arbeitgeber gaben einen Auftrag mit einem Gesuche nach einer bestimmten Arbeitskraft beim Arbeitsamt auf. Hier musste klar definiert werden, welche Arbeit verrichtet werden sollte und welche Qualifikation gesucht war. Daraufhin wurde das italienische Arbeitsamt mit dem Gesuche kontaktiert. Italienische Arbeitssuchende konnten sich zu der Zeit beim Arbeitsamt melden und wurden dann ausgewählt, wenn ihr Profil am besten mit einem Gesuche übereinstimmte. Diese strenge Regulierung erlaubte eine gute Übersicht und Kontrolle über die migrantischen Arbeitskräfte in Deutschland.
Ebenfalls war es eine wichtige Bedingung in dem Anwerbeabkommen, dass die migrantischen Arbeitskräfte nicht unter schlechteren Bedingungen als die heimischen Arbeitskräfte arbeiteten und lebten. Dies bezog sich auf die Bereiche des Lohns, der Arbeitszeit, der Unterkunft und der Sozialversicherungen.
1959 waren dann ca. 50.000 italienische Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft tätig. In den 60er und 70er Jahren wurden auch Anwerbeabkommen mit osteuropäischen Ländern getroffen, welche die italienischen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft ablösten. Hier sprach man auch von einer Lücke im eisernen Vorhang.Saisonarbeit in Deutschland von 1973 bis 1989In der BRD kam es 1973 aufgrund der Ölkrise zu einem Anwerbestoppverfahren. Dieses erwirkte ein Verbot der Rekrutierung von migrantischen Arbeitskräften aus Ländern außerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Mit einer explizit individuellen Arbeitserlaubnis konnten Arbeitskräfte weiterhin einreisenDie landwirtschaftlichen Unternehmen rekrutierten in Westdeutschland bis in die 1980er Jahre, in Zeiten der Teilung Europas, für ihre saisonale Beschäftigung häufig auch Hausfrauen aus dem eigenen regionalen Umfeld, Studierende, Asylsuchende oder die so genannten „Gastarbeiter“. „Seit Mitte der 80er Jahre kamen immer mehr Erntehelfer aus den Mittel- und Osteuropäischen Ländern – vorwiegend aus Polen – zu Ernteeinsätzen in die alten Bundesländer. Sie waren auch mit geringeren Löhnen zufrieden als die ansässigen Saisonarbeiter, da nur sie einen doppelten Marktvorteil erlangen konnten: a) hatten sie einen erheblichen Kaufkraftvorteil gegenüber ihrer nichtkonvertierbaren heimischen Währung, b) konnten sie auf dem Heimweg Waren exportieren, die sie gewinnbringend auf den heimischen Märkten umsetzen konnten.“ (Hentschel, Koch 2001, S.31).Auch in der DDR wurden in den Saisonspitzen saisonale Arbeitskräfte gesucht, welche zu einem großen Teil durch Einheimische besetzt wurden. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der Studentensommer, welcher von der FDJ organisiert wurde. Das war ein Ferienarbeitsprogramm für Studierende der DDR an dem mindestens einmal im Verlaufe des Studiums teilgenommen werden sollte. Die Studierenden bekamen 3 Wochen bezahlte Arbeit, welche die Verbindung mit der Arbeiterklasse stärken und dem Arbeitskräftemangel entgegenwirken sollte. Die Teilnahme am Studentensommer war freiwillig, jedoch konnte eine Teilnahmeverweigerung den Ausschluss des Studiums nach sich ziehen. Ebenso wurden Schülerinnen und Schüler in den Ferien oder an Nachmittagen in die Arbeiten in der Land- und Forstwirtschaft einbezogen um bspw. ihre Klassenfahrten zu finanzieren.
Am Beispiel des Obstanbaugebietes in der Region ist kurz skizziert wie dort Saisonarbeit organisiert wurde: Im Zentralen Jugendobjekt der FDJ (Freie Deutsche Jugend) Havelobst wurden ca. 23.000 Erntehelfer (kumulativ im Jahr) beschäftigt. Dabei gab es eine straffe staatlich organisierte Leitung und eine strenge Kontrolle durch den Jugendverband.
Weitere Arbeitskräfte wurden über die Liga für Völkerfreundschaft organisiert. Kolleginnen und Kollegen z.B. aus Frankreich, Syrien, BRD, Libyen, Dänemark blieben 3 Wochen in der Region. Sie arbeiteten von 6.00 Uhr bis Mittag. Am Nachmittag wurden Besichtigungstouren nach Berlin oder Potsdam organisiert oder es fanden Kultur und Freizeitangebote in den „Bungalowdörfern“, den FDJ-Sommerlager mit Vollverpflegung statt .Ein weiterer Teil einheimischer Saisonarbeitskräfte waren sowjetischen Soldaten und ihre stationierten Ehefrauen. Sie wurden vor allem bei der Ernte eingesetzt.
In der DDR wurden aber auch migrantische Saisonarbeitskräfte beschäftigt. Ca. 150.000 wurden jährlich aus den sozialistischen Bruderländern rekrutiert.Nach 1989Nach den osteuropäischen Grenzöffnungen kamen immer mehr Arbeitssuchende vornehmlich aus Polen, teilweise ohne Arbeitsgenehmigung. Sie übernachteten in Provisorien wie Campingwagen oder gar in eigenem PKW am Wegesrand in ländlichen Regionen. Die damit verbundenen „Lebensweisen“ führte bei der dörflichen Bevölkerung häufig zu Unmut und sozialen Konflikten (Hentschel, Koch, ebenda, S.9).Nach der Wende war Polen das erste Land mit dem die Schengen Staaten Verträge zum visafreien Reiseverkehr abschlossen. Daraufhin folgte das Europa-Abkommen im Dezember 1991, welches bewirkte, dass Polen einzelne bilaterale Verträge mit den EG-Staaten abschließen konnte. So wurden die Weichen gelegt, dass polnische Staatsangehörige legal in Deutschland Werksverträge abschließen konnten. Zeitgleich gab es eine hohe Arbeitslosigkeit in Polen und so kam es dazu, dass in den folgenden Jahren immer mehr polnische Arbeitskräfte in Deutschland Arbeit suchten.
Ein Großteil der Menschen kam als Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft unter. Eine Statistik des Arbeitsamtes zeigt den rasanten Anstieg der polnischen Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft. Seit dem Jahr 1989 stieg die Zahl der Menschen von 25–50.000 auf 1995 221.000 an (www.landarbeiter.eu)
Die Rekrutierung der polnischen Arbeitskräfte lief damals hauptsächlich Mund zu Mund ab. Ca. 63,7% der Menschen haben über Bekannte und Freunde aus Polen oder Deutschland die Jobs vermittelt bekommen haben. Und nur 20,5% wurden über die Betriebe angefragt und 10,7% über das deutsche und polnische Arbeitsamt (ebenda)
Exkurs Lohnentwicklung
Der deutsche Arbeitsmarkt unterliegt mit seinen staatlichen Regulierungen ständigen Veränderungen. Die Unternehmen müssen sich den wandelnden rechtlichen Regeln anpassen und immer wieder neue Wege suchen, um ihren notwendigen Bedarf an Arbeitskräften zu rekrutieren. Ein großer Einschnitt war der zum 1.1.2015 eingeführte gesetzliche Mindestlohn. Bis Anfang der 2010er Jahre galten für Saisonarbeitskräfte gesonderte Tarifverträge, dann wurden die Saisonarbeitstarife in die normalen Entgeltgruppen integriert. So lag der unterste Tarif in NRW am 1.1.2010 bei 6,05 €. Am 1.1.2014 wurde in NRW die unterste Lohngruppe mit 7,0 € (Bisping et al. 2020. S. 52) entlohnt. Die ermittelten Reallöhne für Saisonarbeitskräften lagen zwischen bei 5,60 – 7,00 €/h (Huschik et al. S.13) Bei der geplanten Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes zum 1.1.2015 von 8,50 € hätte dies eine Lohnerhöhung von 20–40% bedeutet. Um solche Sprünge zu vermeiden ließ der Gesetzgeber zu, dass durch allgemeinverbindliche branchenspezifische Tarifverträge Übergangsregelungen getroffen werden konnten. Die Sozialpartner in der Landwirtschaft vereinbarten für die Branche während einer Übergangszeit ein Mindestlohn von 7,20 € im Osten und 7,40 € im Westen ab dem 1.1.2015. Bis zum 1.1.2017 erfolgte sukzessive ein Anstieg dann auf bundeseinheitliche 8,60 €. Gleichzeitig wurden durch das Mindestlohngesetz die Anforderungen an die Aufzeichnung der Arbeitszeiten verschärft.
Zur Kompensation der mindestlohnbedingten Entgelterhöhungen bei Saisonarbeitskräften verfolgten die Unternehmen unterschiedliche Strategien. Zum einen erfolgte eine Verdichtung der Arbeit (Bispinck et al 2020, S.95). Zum anderen, und davon geht auch der Arbeitgeberverband in der Landwirtschaft (GLFA) aus, versuchten einige Betriebe ein Teil der angestiegenen Lohnkosten durch höhere Kosten für Verpflegung, Unterkunft und Ausrüstung zu kompensieren. Kritischer sah das die IG BAU. Sie ging generell davon aus, dass in ganz Deutschland Saisonarbeitskräfte aufgrund intransparenter und falscher Arbeitszeitaufzeichnungen de facto unterhalb des Mindestlohnes bezahlt wurden (Bisping et al. 2020, S.52; Kuschel & Varelmann 2018).
Die steigenden Arbeitslosenzahlen in Deutschland rief Mitte der 1990er Jahre eine Debatte hervor, mit dem Ruf nach mehr Beschäftigung von heimischen Arbeitslosen. Die Politik reagierte mit einem Erlass in dem die Kontingente von ausländischen Wanderarbeitskräften um 20% gesenkt wurden und die verbleibenden 20% zur Kompensation aus deutschen Arbeitslosen rekrutiert werden sollten. Mit umfangreichen Hilfen und mit finanziellen Anreizen wollte die Arbeitsverwaltung Arbeitssuchende auf die Felder schicken. Trotz vieler Bemühungen schlugen diese Initiativen aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Arbeitskräfte, der schweren körperlichen Tätigkeit in der Landwirtschaft bei zugleich niedriger Entlohnung nachzugehen, fehl.
Saisonarbeit nach der EU-Osterweiterung 2004
Die EU — Osterweiterung hatte weitere Konsequenzen für den agrarischen Arbeitsmarkt. Die Entwicklung des gemeinsamen europäischen Marktes beinhaltet auch den freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Doch die Bundesrepublik Deutschland handelte für die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine 7jährige Übergangsfrist aus. Für die Landwirtschaft gab es weiterhin Ausnahmeregelungen. Über diese konnten die Unternehmen weiterhin über eine große Zahl an Wanderarbeitskräften verfügen
Es galten noch die Gesetze der bilateralen Verträge weiterhin, welche noch strenge Reglementierungen für die Rekrutierung der Saisonarbeitskräfte beinhalteten. Arbeit konnte in Deutschland nur aufgenommen werden mit einer Aufenthaltsgenehmigung, welche nach einer umfangreichen Prüfung der Bundesagentur für Arbeit erteilt wurde. Ebenso wurde hier klar festgelegt wie lange die Arbeitnehmenden arbeiten durften und in welchen Branchen zu welchen Stunden usw. So sieht es das Recht auch aktuell für Menschen aus Drittstaaten vor. Deshalb bestehen bis dahin auch noch sehr gut nachvollziehbare Statistiken wie viele Menschen aus Polen und Rumänien jährlich zur Saisonarbeit nach Deutschland kamen (Institut der deutschen Wirtschaft). Seit 2010 wurde in die Wege geleitet, dass es für die Anstellung von migrantischen Saisonarbeitskräften keine Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit mehr benötigt wurden. Dies erschwert die Übersicht darüber wie viele Menschen wann und wo angestellt sind/waren.
Die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 2011
Mit der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit im Jahr 2011, bzw. für Rumänien und Bulgarien in 2013 entfielen diese Begrenzungen. Der Arbeitsmarkt wurde für alle EU-Bürger geöffnet. Allerdings entwickelte sich in Polen zunehmend ein guter Arbeitsmarkt, so dass Arbeitskräfte aus anderen Ländern vornehmlich aus Rumänien angeworben wurden.
Exkurs: Interessenvertretung durch die IG BAU
Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) vertritt die lohnabhängigen Beschäftigten in den so genannten grünen Branchen. Neben den tarif- und sozialpolitischen Belangen nimmt sie auch die politischen Interessen ihrer Mitglieder gegenüber Regierungen wahr. Doch Wanderarbeitskräfte organisieren sich, so die Erfahrungen der letzten 150 Jahre in Deutschland, selten in Gewerkschaften. Auch in der Heimat gehören sie meist den gesellschaftlichen Schichten an, die sich nicht in Gewerkschaften organisieren. Häufig sind sie schlecht ausgebildet, in Schule und Ausbildung wird nichts über Gewerkschaften und „Sozialen Dialogen“ vermittelt, zudem haben die Gewerkschaften in den Heimatländern häufig einen schlechten Ruf und wenn sie doch organisiert sind, ist ihnen die Gewerkschaftsarbeit im Ausland fremd.
Obwohl in der IG BAU kaum Wanderarbeitskräfte organisiert sind, setzt sich die Gewerkschaft für deren Belange ein. Wichtige Schritte waren:
- Vereinbarung zwischen IG BAU, der polnischen ZZPR und der tschechischen OSPZV/ASO über eine Vertretung deren Mitglieder in Deutschland
- Das Engagement auf europäischer Ebene, in der EFFAT und im EWSA mit dem Ziel der Verbesserung der Bedingungen für Wanderarbeitskräfte
- Die Initiierung des Europäischen Vereins für Wanderarbeiterfragen
- Verbesserung der Bezahlung, z.B. der Abschluss von Tarifverträgen für Saisonarbeiter oder der Einsatz zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes
- Initiativen zur Verbesserung der Unterkünfte, z.B. der Ausweitung der Arbeitsstättenverordnung auf landwirtschaftliche Flächen
- Das Engagement der gewerkschaftlichen Vertreter in der Berufsgenossenschaft (SVLFG) für mehr Arbeitsschutz für Saisonarbeitskräfte
- Das Engagement für mehr soziale Sicherheit, insbesondere der Versorgung im Krankheitsfall.
Bei diesem Engagement ist die Gewerkschaft immer auf staatliches Handeln angewiesen, sei ist in Kooperation mit der Arbeitsverwaltung, der Berufsgenossenschaft oder durch gesetzliche Regelungen wie den staatlich festgelegten Mindestlohn.
Seit den 2001er Jahren gab es immer wieder vereinzelt Aktionen der IG BAU zur Information der Wanderarbeitskräfte über ihre Rechte. Diese wurde mit der Förderung einiger Bundesländer von Beratungsprojekten intensiviert. Die Beratungsprojekte erfolgten in Trägerschaft gewerkschaftsnaher Einrichtungen, z.B. Arbeit und Leben, dem Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen und später auch vom Projekt „Faire Mobilität“. In Brandenburg und Niedersachsen, später in Rheinland-Pfalz, Hessen und NRW fanden auf Feldern und in Unterkünften aufsuchende Beratungen statt. Zur Bündelung und Koordinierung der einzelnen Aktivitäten fand 2019 dann eine „offizielle Gründung“ der Initiative Faire Landarbeit (IFL) statt, der sich dann auch das Bundesprojekt Faire Mobilität anschloss ohne sich jedoch in großem Umfang an den Feldaktionen zu beteiligen
Die IFL schaffte es bundesweit im Jahr 2021 ca. 45 Betriebe zu besuchen, in der Regel Betriebe, in denen sich wiederholt Arbeitskräfte über ihre Arbeitsbedingungen beschwerten. Vorgehen der IFL ist es, Verstöße in so genannten „Fällen“ zu dokumentieren und zu skandalisieren. Damit wird versucht über Pressearbeit und dem Herstellen von Öffentlichkeit auf die Unternehmen und politischen Entscheider Druck aufzubauen.
Die Initiativen zeigen, dass immer wieder erhebliche Verletzungen des Arbeits- und Sozialrechtes in der deutschen Landwirtschaft erkennbar sind. Über den Umfang und der Art von Verstößen gibt es allerdings sehr wenig belastbare Informationen. Die IG BAU fordert deshalb von der Bundesregierung immer wieder ein stärkeres Engagement bei der Durchsetzung des Arbeitsrechtes.
Exkurs: Fälle von schwerer Ausbeutung in der Landwirtschaft
In einer internen Statistik der vom BMAS geförderten „Fairen Mobilität“ wurden in einer allgemeinen Auswertung im Jahr 2021 insgesamt 209 Fälle in der Landwirtschaft erfasst, das sind 3,1 % aller erfassten Fälle aus allen Branchen in denen Wanderarbeitskräfte beschäftigt sind. Auch in einer während der Pandemie eingerichteten Hotline konnte in Landwirtschaft und Gartenbau lediglich 99 Meldungen von 1.999 Fällen gezählt werden.
Andererseits zeigen Erfahrungen der arbeitsrechtlichen Beratungsstellen zeigen, dass Arbeitsrechtsverstöße überwiegend aus Großbetrieben gemeldet werden und weniger aus kleineren Unternehmen.
Neben den Aktionen der gewerkschaftlichen Initiativen führt die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FSK) – eine dem Finanzministerium unterstellte Prüfbehörde –Betriebskontrollen durch. In einer Anfrage der Partei DIE LINKE an den deutschen Bundestag über Mindestlohn in den Bundesländern wurde ein umfassender Bericht über die Aktivitäten der FKS gegeben.
So wurden in 2021 in 1.199 Betrieben von insgesamt 80.000 Unternehmen in den Branchen Landwirtschaft, Gartenbau und Forstwirtschaft Kontrollen durchgeführt (Deutscher Bundestag 2022, S.79 und 6). Dabei wurden Beitragsbetrug (AN) in 140 Fällen, Beitragsbetrug (AG) in 38 Fällen sowie Leistungsmissbrauch z.B. Verstoß gegen die ALG II Regelungen und Arbeitslosengeldunterstützung in 162 Fällen festgestellt. Bei Verdacht auf illegalem Aufenthalt wurde in 267 Fällen Strafanzeige gestellt, die übrigen Strafsachen liegen jeweils unter 10 Fällen. Verstöße gegen das Mindestlohngesetz sind nicht strafbewehrt. Verstoßen Unternehmen gegen die Mindestlohnverordnung wird dies als Ordnungswidrigkeit bewertet und mit einem Ordnungsgeld belegt. Eingeleitet wurden 67 Ordnungswidrigkeitsverfahren (ebenda S.7). Diese Verstöße fallen jedoch häufig mit dem strafrechtlich bewehrten Vorenthalten von Arbeitsentgelt (passender wäre: Hinterziehung von SV-Abgaben) [§ 266a StGB] zusammen. Ob es sich bei den Verstößen um deutsche Personen oder Wanderarbeitskräfte handelt, ist im Bericht nicht dargestellt.
Literatur
Bisping, R./ Dribbusch, H./ Kestermann, C./ Lesch, H./ Lübker, M./ Schneider, H./ Schröder, C./ Schulten, T./ Vogel, S., Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) (2020): Forschungsbericht 562. Entwicklung des Tarifgeschehens vor und nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Köln: Institut der deutschen Wirtschaft. Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler- Stiftung. S.52). https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Forschungsberichte/fb-562-entwicklung-tarifgeschehen-vor-und-nach-einfuehrung-des-mindestlohns. Zugegriffen am 29.8.2022.
BMEL, Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (Hg.) (2017), Der Gartenbau in Deutschland Auswertung des Gartenbaumoduls der Agrarstrukturerhebung 2016, S. 17.)
Deutscher Bundestag 20.Wahlperionde, Drucksache 20/1223 vom 25.03.2022, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Susanne Ferschel, Christian Leye, Gökay Akbulut, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Drucksache 20/779- Mindestlohnkontrollen in den Bundesländern
Forum Social Innovation (2010), Schwarzarbeit in der Europäischen Landwirtschaft Umfang und Ursachen, sowie Ansätze zur Reduzierung, Studie im Auftrag der Europäischen Föderation der Gewerkschaften Lebensmittel, Landwirtschaft und Tourismus (EFFAT) mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Kommission, Generaldirektion Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Gleichstellung, Pulversheim, S.25.
Hentschel, T /Koch, C (2001) Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (Hrsg) Landwirtschaftliche Saisonarbeit 2001, S. 9 und S.31.
Huschik, G/ Kunert, A./Mangold, U/ Krämer, L./ Ehrentraut, O./ Weinelt, H. (2022), Abschlussbericht Gesetzlicher Mindestlohn, Projektdurchführung Prognos AG Studie im Auftrag der Mindestlohnkommission, S.2.
Institut der deutschen Wirtschaft Köln (2014) Aufschwung mit Risiken, S.8,
https://www.iwd.de/fileadmin/iwd_Archiv/2014_Archiv/iwd_2014_15.pdf, zugegriffen am 9.1.2023.
Kuschel, S./Varelmann, K. (2018): Bundesweite Aktionswochen Saisonarbeit in der Landwirtschaft 2018, Peco-Institut/IG BAU (Hrsg.). https://www.landarbeiter.eu/wp-content/uploads/2022/03/2018-Bundesweite-Aktionswochen-Saisonarbeit-Landwirtschaft-Peco-IGBAU.pdf. Zugegriffen am 28.9.2022
https://www.landarbeiter.eu/wp-content/uploads/multimedia-landarbeiter/index.htm, Wanderarbeit, Zwangsarbeit, Saisonarbeit, Zugegriffen am 9.1.2022.